Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Bahnhofstunnel ist Vergangenheit
Verkehr Jahrzehntelang wechselten Reisende in der Unterführung die Seiten. Seit heute gibt es die unterirdische Passage am Hauptbahnhof nicht mehr. Ein „Nachruf“auf ein Gebäudeteil, das offenbar niemand vermisst
Ist es nicht traurig, von niemandem vermisst zu werden? Seit heute Nacht ist die Unterführung am Augsburger Hauptbahnhof Vergangenheit. Die Mittelpassage führte jahrzehntelang die Menschen zu allen neun Gleisen in die Welt hinaus oder zeigte ihnen den Weg in die Augsburger Innenstadt. Nun ist sie dem Bahnhofsumbau zum Opfer gefallen. Ein kleiner Nachruf auf einen Tunnel, den offenbar niemand vermissen wird.
Vielleicht sollte man der Unterführung an den Gleisen nicht böse sein, dass sie so aussah, wie sie aussah. So mitgenommen und trostlos. Die beigen Fliesen an den Wänden waren nun mal nicht schönheitspreisverdächtig. Dübellöcher, Kleberreste und Reste von Substanzen, über die man nichts Näheres wissen will, machten die Wandfließen nicht ansehnlicher. Zudem verliehen sie der Röhre den zweifelhaften Charme eines alten, leeren Schwimmbeckens in einem Hallenbad mit Neonröhren an der Decke. Wer will sich darin schon länger aufhalten, als er muss? Lieber schnell durch und die Seiten wechseln. In den Tunnel abtauchen und auf der anderen Seite empor kommen. Das mit dem „schnell“war allerdings immer so eine Sache. Vor allem bei schwerem Gepäck.
Samstagvormittag. Des Tunnels vorletzter Tag: Desiree Kiening schleppt ihren Koffer an Gleis 1 die Treppen hinunter. Sie muss rüber zu Gleis 8. Dort fährt gleich ihr Zug ab nach München. Die Lufthansastewardess fliegt heute nach Düsseldorf. Den Koffer also hochheben, etwas seitlich vom Körper halten, damit die Knie beim Treppenlaufen nicht ans Gepäck stoßen. Die Gepäckförderbänder, die es nur an den beiden Gleis-1-treppen gibt, funktionieren nämlich nicht. Mal wieder nicht. Gefühlt haben sie eigentlich nie funktioniert.
„Gepäckförderband defekt. Wir bitten um ihr Verständnis“, steht auf einem Blatt Papier. Es wurde schon oft um Verständnis gebeten. Das bestätigt auch Peter Boekstegers, der soeben mit dem Zug vom Ammersee angekommen ist: „Ganz was Neues. Das mit den Kofferbändern hat doch selten geklappt.“Nun schleppt er sein Gepäck zu Gleis 1 hinauf. Den Koffer hochheben, etwas seitlich vom Körper halten, damit die Knie... „Das ist schon jedes Mal stressig“, meint der junge Mann, der oft in Augsburg zu Besuch ist. Dass die Mittelpassage nun schließe, sei ihm „wumpe“. „Ich habe eh keine emotionale Bindung zu Augsburg.“Stewardess Kiening freut sich richtig auf den neuen Bahnhof. So richtig richtig. Sie lebt in Augsburg und fährt viel Zug. „Ich wohne im Thelottviertel. Dann kann ich künftig gleich von dort zu den Gleisen gehen.“
Wie gesagt, man sollte der alten Gleisunterführung nicht böse sein, dass sie so aussah, wie sie aussah. Sie hatte es nie leicht. Einmal herrschte in ihr gähnende Leere. Dann aber spuckten Züge jede Menge Menschen auf einmal aus. Die meisten hasteten durch die Röhre. Viele telefonierten mit Handys, trugen Kopfhörer, wirkten gehetzt. Auch am Samstag: „Nein, keine Zeit“, winkt ein Mann genervt ab. „Können Sie mal vorwärtskommen mit ihren Fragen? Ich muss weiter“, nörgelt eine Frau. In der Röhre herrscht am Wochenende kurzzeitig Stress. Eine junge Zugfahrerin weist darauf hin, dass man nur in die Gesichter der Menschen im Tunnel zu schauen brauche. „Gerade unter der Woche sieht man ihnen an, ob die Leute in die Arbeit fahren oder ob sie frei haben und verreisen. Und es gibt so viele schlecht gelaunte Gesichter.“So ein Karma muss man als Tunnel auch erst mal ertragen. Schließlich kommt man ja nicht vom Fleck. Man wird nur benutzt. Und verspottet. Wie von den Plakaten, die in den letzten Tagen an den beigen Wandkacheln klebten.
„Tschüssikovsky Mittelpassage“, „Auf Nimmerwiedersehen“oder „Der Letzte macht das Licht aus“, stand darauf geschrieben. „Ein leichter Abschied. Ab Montag ist die Mittelpassage geschlossen. Die Südpassage (bei Mcdonald’s) übernimmt den Job. Nicht sooo schlimm“, hieß es auf einem weiteren Plakat. Offenbar findet es wirklich niemand schade, dass der Tunnel für immer schließt. Vielleicht der Herr in dem roten Pulli da hinten mit dem Fotoapparat in der Hand? Der Augsburger Günther Herdin hat tatsächlich die Gleisunterführung aufgesucht, um zum Abschied ein paar letzte Bilder zu machen. Doch nicht, weil ihm der Tunnel besonders am Herzen liegt. Sondern weil der Augsburger generell großes Interesse am Bahnhofsumbau hegt. Er dokumentiert hier sämtliche Veränderungen. Höchste Zeit sei es seiner Meinung nach, dass am Bahnhof was passiert. Und der Tunnel? „Der ist heruntergekommen, verbraucht und nicht mehr attraktiv.“Nostalgie ist in der Gleisunterführung offenbar fehl am Platz. Na gut, wir hatten es versucht – mit einem netten Nachruf.
Ab heute stehen für den Zugang zu den Gleisen nur noch die Süd Unter führung und der im Frühjahr reaktivierte Posttunnel (Eingang neben der Pfer seer Unterführung) zur Verfügung. Bis Ende 2023 soll es dann die neue Röhre für Fußgänger und Straßenbahnen geben.