Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das Gedächtnis des Stadtteils
Bernhard Radinger führt das inoffizielle Archiv von Kriegshaber. Er sammelt Fotos und alte Stiche, auch Bücher. Angefangen hat das vor vierzig Jahren, weil er dem neuen Pfarrer erklären wollte, was ihn fortan erwartet
In diesem Sommer wollen wir den Stadtteil Kriegshaber erkunden. Sechs Dienstage lang kommen wir mit unserem mobilen Schreibtisch vor das ehemalige Straßenbahndepot an der Ulmer Straße. Parallel dazu sehen wir uns auch so in dem Stadtteil um. Wir stellen Ihnen im Lauf der Sommerferien zusätzlich interessante Menschen und Orte vor. Wir waren schon im Spectrum Club und im Jugendzentrum r33. Nun sind wir bei dem inoffiziellen Archivar von Kriegshaber: Bernhard Radinger. Viel kürzer kann eine Straße kaum sein – vielleicht 50 Meter misst die Verbindung von der Ulmer Straße zur Ramsbergstraße. Im Telefonbuch finden sich nur zwei Einträge: zu Hausnummer 2 und zu Hausnummer 4. Hier also, in diesem winzigen Straßenzug in Kriegshaber ist das inoffizielle Archiv und Gedächtnis des Stadtteils untergebracht, hier lebt schon seit Kindertagen Bernhard Radinger. Wer etwas über den Stadtteil schreiben möchte, wer etwas über dessen Geschichte erfah- ren will, wer ein altes Bild sucht, landet früher oder später bei ihm – in der Schärtlstraße.
Dort kann es sein, dass Radinger dem Ortsteil-unkundigen erst einmal einen halbstündigen Film zeigt – noch auf Vhs-kassette. „Den haben wir 1985 gemacht“, sagt Radin- Die Uraufführung fand bei einem Pfarrabend der Kirchengemeinde Heiligste Dreifaltigkeit statt. Der Film setzt mit der keltischen Besiedlung Kriegshabers noch vor der Römerzeit an – und zeigt in Form einer Dia-schau, wie Kriegshaber zum Stadtteil von Augsburg wurde. Das Fotomaterial, das dabei verwendet wurde, stammt aus Radingers Sammlung.
Überhaupt ist die Dreifaltigkeitskirche schuld, dass das mit Radinger und dem Sammeln anfing. „Als Richard Steiner 1976 Pfarrer wurde, wollten wir ihm Kriegshaber vertraut machen“, erzählt Radinger. Und weil zu einem Ort ja immer auch die Geschichte gehört, um zu verstehen, wie alles miteinander zusammenhängt, hat Radinger Freunde, Bekannte und Kollegen gefragt, ob sie alte Aufnahmen haben.
So hat Radinger, 68 Jahre alt, gelernter Fotograf, viele Jahre bei der MAN beschäftigt, über Jahrzehnte das Wissen über Kriegshaber angezogen. Und es könnte kein besseres Haus als dieses dafür geben. Es scheint wie dafür geschaffen zu sein, weil es selbst wie ein Museum aussieht. Überall an den Wänden hängen die Bilder von Karl Radinger, Bernhard Radingers Vater, der nebenan im Garten sein Atelier hatte. In den Regalen im Wohnzimmer stehen die Kriegshaber-bücher, eines neben dem andern.
Aber so ist das in Radingers Leger. ben – das eine kommt zum andern. Es gibt da jetzt eine neue Kriegshaber-zeitschrift, für die er – wie sollte es anders sein – arbeitet. „Wir planen da immer ein paar Nummern im Voraus“, sagt Radinger. Sein Spezialgebiet – alte Geschichten.
Vielleicht ist er beim Sammeln auch deshalb so erfolgreich, weil er den anderen das Mitmachen und Mithelfen versüßt; zum Beispiel, indem er eine Flasche Wein auslobt für den Fall, dass ihm jemand ein altes Foto zu einem bestimmten Thema geben kann.
Was aus seiner Kriegshabersammlung einmal werden soll, auch darüber hat sich Radinger schon Gedanken gemacht. „Das Stadtarchiv“, sagt er nur. Und bis dahin wird natürlich weitergesammelt. „A bissle was muss man immer machen.“An den Dienstagnachmittagen ist Radinger gerade Stammgast bei unserer Sommerserie „Kultur aus der Ulmer Straße“vor dem ehemaligen Straßenbahn-depot in Kriegshaber. Und er gehört dort zu denen, die von sehr vielen begrüßt werden: „Der Radinger“, das Gedächtnis von Kriegshaber.