Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Verbreitung unzüchtiger Schriften“
Heute wie damals provokant: Die Gedichte der „Hauspostille“, die vor 90 Jahren erschien
Vor 90 Jahren erschien erstmals Brechts Hauspostille, jener berühmte Zyklus aus 50 Gedichten, die zwischen 1916 und 1925 entstanden – die weitaus meisten in der Augsburger Zeit des Autors. Sie gehören nicht nur zur besten und provokantesten Lyrik Brechts, sondern haben teilweise eine spektakuläre Überlieferungsgeschichte, die vielfach nur beiläufig zur Kenntnis genommen wurde. So wurde „Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde“, das berühmte Gedicht über einen jugendlichen Mörder, den Brecht eher als Opfer denn als Täter betrachtet, 1920 in der Zeitschrift Das Bordell veröffentlicht. Diese zog die Staatsanwaltschaft wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ein.
Brecht hatte die wenigsten Gedichte ausdrücklich für diese Sammlung geschrieben, sondern versuchte, sie in der Regel zeitnah zur Entstehung einzeln zu publizieren. Oft gelang dies, bei manchen war dies aufgrund ihres provozierenden Inhalts schwierig. Eine der in dieser Hinsicht längsten „Liegezeiten“hatte die „Ballade von der Freundschaft“, heute, aufgrund der Diskussionen einerseits über die soge- nannte „Homo-ehe“und andererseits über Europa gleich von doppelter Aktualität.
Das Gedicht entstand im Juli 1920, lag Bertolt Brecht selbst sehr am Herzen und beschreibt in teilweise drastischen, den bürgerlichen Leser von einst verstörenden Bildern die einzige intakte Liebesbeziehung der ganzen Hauspostille. Diese Beziehung ist eine homosexuelle, eine solche außerhalb der Ge- sellschaft, lebbar nur auf einer einsamen Insel. Die einzigen „Sünden“sind gerade heterosexuelle Eskapaden, die sich die beiden Liebenden gelegentlich einvernehmlich leisten. Die Konventionen sind also komplett auf den Kopf gestellt, es handelt sich um einen Generalangriff auf die bürgerliche Moral, Liebe bis in den Tod ist nur möglich außerhalb ihrer Normen, und insofern kann es nicht allzu sehr verwun- dern, dass das Gedicht unveröffentlicht blieb.
Das änderte sich erst ganze fünf Jahre später, als das Gedicht in einen der spektakulärsten Almanache dieser Zeit aufgenommen und damit erstmals publiziert wurde; illustriert durch ein Holzrelief Ernst Barlachs, das man ihm beifügte und das den Titel „Die gemarterte Menschheit“trägt. Der Almanach heißt „Europa“, wurde 1925 von den jüdischen Künstlern Carl Einstein und Paul Westheim herausgegeben und konnte unlängst von der BrechtForschungsstätte Augsburg im Original erworben werden. Der Almanach ist so bedeutsam, dass er 1984 auch als Reprint erschien. Der Titel ist Programm, es handelt sich um den Abgesang eines Europas, das am Untergehen scheint. Die beiden Herausgeber finden da in ihrer Einleitung klare, brandaktuelle, gar prophetisch anmutende Worte:
„Man sieht sich die Augen aus dem Kopf: Europa ist eingeschrumpft. Tableau! Die Längenund Breitengrade scheinen dieselben zu sein, aber wo sie in den Nullpunkt münden: da liegt jetzt Europa [ … ]. Was nutzen uns die schönen Ideale, wenn andere darauf spazieren gehen.“
Dieser tiefe Pessimismus in der Nachkriegsgesellschaft den „europäischen Idealen“gegenüber mündet in der Feststellung: „Da: Schauplatz Europa wird ein Jahrmarkt – Bravo!“
Doch: In der Anarchie, im Durcheinander dieses Jahrmarktes, auf dem scheinbar alles einstmals Bedeutsame, von der Moral bis zur Kunst, unterminiert, infrage gestellt wird, sehen die Herausgeber die Chance auf ein neues Europa, das aus dem alten erwachse: „Es lebe Jahrmarkt Europa!!!“Und so sammeln sie in ihrem Almanach vermeintlich Disparates. Bausteine zu einer möglichen europäischen Erneuerung werden zur Diskussion gestellt, aus allen europäischen Ländern, aus allen Bereichen der Kunst, Malerei, Literatur, Architektur, Musik, Film, Mode: kunterbunt, aber auch innovativ ebenso wie äußerst provokant.
Dahinein passte offenbar Brechts poetischer Entwurf einer Art von Liebe, die er in seinem Gedicht noch auf eine einsame Insel zu verbannen hatte. Sollte sie ihren Platz finden in einem „neuen Europa“?
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Jürgen Hillesheim ist Leiter Brechtforschungs-stätte Augsburg der