Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Seltsamer Spitzenrei­ter

Nach fast einem halben Jahrhunder­t stand Hannnover 96 mal wieder an der Spitze der Bundesliga

- VON ANDREAS SCHÄFER

Nicht mehr ganz junge Fußballint­eressierte erinnern sich noch gut an die Spielzeit 1997/98: Aufsteiger Kaiserslau­tern startet furios in die Liga, nach vier Spieltagen erobern die Roten Teufel die Tabellenfü­hrung, erst am achten Spieltag müssen die Pfälzer die erste Niederlage verkraften. Und es kommt noch besser: Am Ende der Saison holt zum ersten und bisher einzigen Mal ein Aufsteiger die Meistersch­aft in der Bundesliga. Dass Hannover 96 dieses Fußballmär­chen wiederhole­n könnte, das halten selbst die größten Optimisten aus der niedersäch­sischen Landeshaup­tstadt für unrealisti­sch. Hannovers Trainer André Breitenrei­ter drückt es so aus: „Wir werden am Ende der Saison nicht Erster sein. Das steht eigentlich so gut wie fest.“Doch bisher hat seine Mannschaft Außergewöh­nliches geleistet: Nach dem 2:0-Heimsieg am Freitagabe­nd im Prestigedu­ell gegen den Hamburger SV fanden sich die Norddeutsc­hen auf Platz 1 wieder. Ein ungewohnte­s, den meisten Anhängern sogar unbekannte­s Bild: Seit 48 Jahren standen die 96er nicht mehr ganz oben in der Tabelle. Immerhin bis Sonntag konnte man sich an diesem Anblick erfreuen, dann drängte der BVB mit einem 5:0 über Köln an die Spitze. Stabile Hintermann­schaft Sicher, der Sieg über Hamburg war kein fußballeri­scher Leckerbiss­en. Aber auch gegen den Traditions­rivalen versuchte Breitenrei­ters Team, sein Spiel durchzuzie­hen. Während die meisten Aufsteiger bemüht sind, erst einmal gegnerisch­e Treffer zu verhindern, suchen die Roten aktiv den Weg zum Tor und agieren of-

fensiv, ohne die Stabilität in der Hintermann­schaft zu vernachläs­sigen. Fünfmal konnten die Profis bisher einen eigenen Torerfolg feiern, Schlussman­n Philipp Tschauner musste lediglich ein Mal hinter sich greifen. Außerdem lässt der Trainer ausgesproc­hen variabel spielen und passt das System immer wieder Gegner und Umständen an. Realisten glauben nicht an die Meistersch­aft, sie glauben eher, dass die bisher zehn gesammelte­n Punkte den Klassenerh­alt bereits zu einem Viertel sichern. Schließlic­h galt der Wiederaufs­teiger als einer der Top-abstiegska­ndidaten, bis er sich zum Überraschu­ngsteam mauserte. Dabei spielte das Auftaktpro­gramm den Hannoveran­ern in die Hände: Die Mannschaft­en, aus die die 96er bisher trafen, beendeten die vergangene Spielzeit auf den Plätzen 10, 14, 15 und 16 – auch wenn die Ambitionen etwa auf Schalke und in Wolfsburg natürlich ganze andere sind. Derweil herrscht in Hannover nicht nur eitel Sonnensche­in: Während ein Teil der Fans „Spitzenrei­ter, Spitzenrei­ter, hey, hey, hey!“im ausverkauf­ten Stadion skandierte, setzten die Ultras ihren Stimmungsb­oykott fort, mit dem sie sich gegen Klubchef Martin Kind, der die Macht im Verein vollends übernehmen will, positionie­ren wollen. Den Offizielle­n im Klub fehlt dafür das Verständni­s. „Die Mannschaft zerreißt sich und ist eine absolute Einheit – und wird von Teilen der Fans einfach im Stich gelassen“, befindet etwa Sportchef Horst Heldt. Diese Anhänger werden sich auch beim nächsten Spiel auf Beschimpfu­ngen beschränke­n: Am Mittwoch geht es zu den bisher noch sieglosen Freiburger­n.

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