Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Seltsamer Spitzenreiter
Nach fast einem halben Jahrhundert stand Hannnover 96 mal wieder an der Spitze der Bundesliga
Nicht mehr ganz junge Fußballinteressierte erinnern sich noch gut an die Spielzeit 1997/98: Aufsteiger Kaiserslautern startet furios in die Liga, nach vier Spieltagen erobern die Roten Teufel die Tabellenführung, erst am achten Spieltag müssen die Pfälzer die erste Niederlage verkraften. Und es kommt noch besser: Am Ende der Saison holt zum ersten und bisher einzigen Mal ein Aufsteiger die Meisterschaft in der Bundesliga. Dass Hannover 96 dieses Fußballmärchen wiederholen könnte, das halten selbst die größten Optimisten aus der niedersächsischen Landeshauptstadt für unrealistisch. Hannovers Trainer André Breitenreiter drückt es so aus: „Wir werden am Ende der Saison nicht Erster sein. Das steht eigentlich so gut wie fest.“Doch bisher hat seine Mannschaft Außergewöhnliches geleistet: Nach dem 2:0-Heimsieg am Freitagabend im Prestigeduell gegen den Hamburger SV fanden sich die Norddeutschen auf Platz 1 wieder. Ein ungewohntes, den meisten Anhängern sogar unbekanntes Bild: Seit 48 Jahren standen die 96er nicht mehr ganz oben in der Tabelle. Immerhin bis Sonntag konnte man sich an diesem Anblick erfreuen, dann drängte der BVB mit einem 5:0 über Köln an die Spitze. Stabile Hintermannschaft Sicher, der Sieg über Hamburg war kein fußballerischer Leckerbissen. Aber auch gegen den Traditionsrivalen versuchte Breitenreiters Team, sein Spiel durchzuziehen. Während die meisten Aufsteiger bemüht sind, erst einmal gegnerische Treffer zu verhindern, suchen die Roten aktiv den Weg zum Tor und agieren of-
fensiv, ohne die Stabilität in der Hintermannschaft zu vernachlässigen. Fünfmal konnten die Profis bisher einen eigenen Torerfolg feiern, Schlussmann Philipp Tschauner musste lediglich ein Mal hinter sich greifen. Außerdem lässt der Trainer ausgesprochen variabel spielen und passt das System immer wieder Gegner und Umständen an. Realisten glauben nicht an die Meisterschaft, sie glauben eher, dass die bisher zehn gesammelten Punkte den Klassenerhalt bereits zu einem Viertel sichern. Schließlich galt der Wiederaufsteiger als einer der Top-abstiegskandidaten, bis er sich zum Überraschungsteam mauserte. Dabei spielte das Auftaktprogramm den Hannoveranern in die Hände: Die Mannschaften, aus die die 96er bisher trafen, beendeten die vergangene Spielzeit auf den Plätzen 10, 14, 15 und 16 – auch wenn die Ambitionen etwa auf Schalke und in Wolfsburg natürlich ganze andere sind. Derweil herrscht in Hannover nicht nur eitel Sonnenschein: Während ein Teil der Fans „Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey, hey, hey!“im ausverkauften Stadion skandierte, setzten die Ultras ihren Stimmungsboykott fort, mit dem sie sich gegen Klubchef Martin Kind, der die Macht im Verein vollends übernehmen will, positionieren wollen. Den Offiziellen im Klub fehlt dafür das Verständnis. „Die Mannschaft zerreißt sich und ist eine absolute Einheit – und wird von Teilen der Fans einfach im Stich gelassen“, befindet etwa Sportchef Horst Heldt. Diese Anhänger werden sich auch beim nächsten Spiel auf Beschimpfungen beschränken: Am Mittwoch geht es zu den bisher noch sieglosen Freiburgern.