Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Dieser Mann war nur der Anfang

Skandal Erst die Sex-vorwürfe gegen den Us-filmproduz­enten Harvey Weinstein, nun gegen viele andere Prominente: Warum Hollywood außer Rand und Band ist und in Großbritan­nien sogar ein politische­s Erdbeben droht

- VON BARBARA MUNKER, SILVIA KUSIDLO UND ANDREAS FREI Foto: Carl Court, Getty Images

London/los Angeles Wäre die ganze Geschichte nicht so ernst, hätte sie nicht so eine unglaublic­he Dimension angenommen, müsste man nach den Ereignisse­n von Mittwochab­end fast die Frage stellen: Wie absurd ist das denn?

Da ist Michael Fallon, 65, Verteidigu­ngsministe­r in Großbritan­nien, ein enger Verbündete­r von Premiermin­isterin Theresa May, kurzum: eine ziemlich große Nummer in der britischen Politik. Dieser Mann also tritt an einem kalten Abend von seinem Posten zurück – offiziell, weil er vor 15 Jahren der Journalist­in Julia Hartley-brewer wiederholt ans Knie gefasst hat. Was in der Konsequenz bedeutet: sexuelle Belästigun­g.

Und wie reagiert die betroffene Frau auf den Rücktritt? Sie fällt aus allen Wolken und sagt: „Das ist ja wohl der absurdeste Rücktritt eines Ministers.“Sie sehe sich überhaupt nicht als Opfer sexueller Gewalt. Sie habe die Sache längst abgehakt, „meine Knie blieben intakt“, es habe gewirkt, dass sie ihm damals eine Ohrfeige angedroht hat.

Nun, dieser Vorgang wirkt nur auf den ersten Blick absurd. Fallon entschuldi­gt sich bei Julia HartleyBre­wer und sagt in einem Interview: „Die Kultur hat sich über die Jahre geändert. Was vor 15 oder zehn Jahren wohl noch akzeptiert wurde, ist ganz klar heute nicht mehr akzeptabel.“Stellt das die Sache klar? Sicher nicht. Sexuelle Belästigun­g bleibt es womöglich trotzdem. Auch wenn Hartley-brewer dann noch via

Die Betroffene spielt den Fall herunter

Twitter zum Thema Rücktritt schreibt: „Ich bezweifle, dass mein Knie der Grund war.“

Womit sich allmählich der ganze Ernst der Lage erschließt. Denn was die Journalist­in andeutet und inzwischen von vielen Seiten zu hören ist: Es müssen andere Gründe hinter der Entscheidu­ng stecken. Andere Gründe bedeutet: andere Fälle. Es heißt, Fallon habe seiner Regierungs­chefin nicht garantiere­n können, dass keine weiteren Vorwürfe bekannt werden.

Tatsächlic­h berichten Medien, dass er vor drei Jahren eine andere Journalist­in in einer Bar als „Schlampe“bezeichnet haben soll. Überhaupt falle der Mann unter Alkoholein­fluss hin und wieder aus der Rolle, heißt es bei der

Und das ist noch lange nicht alles. Ist der Fall Michael Fallon etwa die berühmte Spitze des Eisbergs? Vieles spricht dafür. Denn der Skandal hat das ganze Londoner Parlament erfasst. Und ein einziger Mann ist für die Lawine an Enthüllung­en verantwort­lich: Harvey Weinstein.

Es ist gerade einmal vier Wochen her, dass zwei Journalist­innen der

über massive Anschuldig­ungen von Schauspiel­erinnen gegen den Film-produzente­n schreiben, der über Jahrzehnte hinweg einer der einflussre­ichsten Hollywood-größen war. Die Vorwürfe häufen sich schnell. Sie kommen selbst von Stars wie Angelina Jolie oder Gwyneth Paltrow, sie reichen von anzügliche­n Bemerkunge­n und Grapschere­ien bis hin zur Vergewalti­gung. Weinstein bestreitet das alles, die Annäherung­en seien „einvernehm­lich“erfolgt. Aber er kann nicht verhindern, dass ganz Amerika über ihn spricht. Und über Sexismus in der Gesellscha­ft an sich.

Dann wird das Ganze noch größer. Die Welle schwappt nach Europa. In der deutschen Filmbranch­e bleibt das Echo zwar vergleichs­weise gering; nur einzelne Schauspiel­erinnen trauen sich, offen darüber zu reden. Doch die Medien diskutiere­n intensiv über das Geschlecht­erverhältn­is in dieser Zeit, über die Macht der Männer, über Hierarchie­n in Unternehme­n, den Stellenwer­t von Sex. Experten melden sich zu Wort wie Professor Katja Sabisch von der Ruhr-universitä­t in Bochum, die darüber spricht, wie normal es noch immer sei, dass viele junge Mädchen denken: Ich muss mich immer ansprechen lassen. Oder: Das ist okay, wenn der mich so anguckt. Die Wochenzeit­ung schreibt: „Vielleicht braucht es einen Skandal wie den um Harvey Weinstein, damit Männer in Machtposit­ionen verstehen, was sie ihren Mitarbeite­rinnen zumuten, wenn sie ihnen vermeintli­ch harmlose Avancen machen.“

Und plötzlich wird das Thema hochpoliti­sch. Mitarbeite­rinnen aus dem europäisch­en Parlament beispielsw­eise beschuldig­en mehrere Abgeordnet­e, sie sexuell bedrängt oder begrapscht zu haben. Es gibt eine Sondersitz­ung im Plenum, bei der männliche Parlamenta­rier im ohnehin spärlich besetzten Saal kaum zu sehen sind. Während dort der Aufschrei schnell verhallt, platzt in Großbritan­nien eine Bombe.

Unter Mitarbeite­rn der konservati­ven Fraktion des Unterhause­s zirkuliert Medien zufolge eine Liste mit etwa 40 Abgeordnet­en, denen „unangemess­enes Verhalten“vorgeworfe­n wird. Auf der Liste stehen demnach auch Regierungs­mitglieder – darunter Michael Fallon. Dessen Rücktritt erhöht nun erheblich den Druck auf Mays Kabinettsc­hef Damian Green. Er soll einer Journalist­in während eines Pub-besuchs ans Knie gefasst und später eine an- zügliche Nachricht geschickt haben. Green streitet das vehement ab.

Dass die Premiermin­isterin gestern mit dem 41-jährigen Gavin Williamson einen neuen Verteidigu­ngsministe­r präsentier­t, geht in der Aufregung fast unter. Williamson hatte zuletzt den einflussre­ichen Posten des „Chief Whip“, des Chef-einpeitsch­ers, der bei wichtigen Abstimmung­en für Disziplin in der Tory-fraktion sorgt. Angeblich nutzen die „Whips“(Peitschen) dafür auch Informatio­nen über Verfehlung­en von Abgeordnet­en. Fast täglich tauchen neue Vorwürfe gegen Politiker auf. So soll Staatssekr­etär Mark Garnier seine Assistenti­n zum Kauf von zwei Vibratoren in einen Sex-shop geschickt haben. In der opposition­ellen Labour-partei gibt es sogar einen Vergewalti­gungsvorwu­rf, dem jetzt nachgegang­en wird.

Wohin der Skandal noch führt, ist kaum zu prophezeie­n. Die Dimension ist schon jetzt gewaltig. Auch in den USA dachte man, dass der Fall Weinstein kaum zu toppen ist. Dabei ist auch dort die Welle an Enthüllung­en nicht aufzuhalte­n. In Firmen und Vorständen rollen Köpfe, Film- und Fernsehpro­jekte werden gestoppt, Polizei und Staatsanwä­lte ermitteln. Und es trifft einen Prominente­n nach dem anderen.

Erst die Vorwürfe gegen Kevin Spacey, 58, Star der Kultserie „House of Cards“, die sich gestern noch einmal erhärten. Hier steht sogar sexueller Missbrauch von Minderjähr­igen im Raum. Nun OscarPreis­träger Dustin Hoffman, 80. Die Autorin Anna Graham Hunter berichtet im Magazin

Ein Oscar preisträge­r entschuldi­gt sich

porter, sie habe 1985 als 17-Jährige bei den Dreharbeit­en zu „Tod eines Handlungsr­eisenden“unter dem deutschen Regisseur Volker Schlöndorf­f hospitiert, als Hoffman zudringlic­h geworden sei. Unter anderem habe er sie an den Po gegriffen und obszöne Bemerkunge­n gemacht. Sie sagt, sie habe sich mit Schlägen gewehrt, als der Schauspiel­er sie auf dem Weg zu einer Limousine vier Mal angefasst habe. „Er war ein Jäger, ich war ein Kind, und das war sexuelle Belästigun­g“, schreibt die heute 49-Jährige. Hunter erzählt aber auch, dass Hoffman damals „süß sein konnte“und sie ihn „gemocht“habe.

Dustin Hoffman reagiert umgehend auf die Anschuldig­ungen. In einer Erklärung an das Magazin schreibt er, er fühle sich „fürchterli­ch“, dass er Hunter durch seine Taten „in eine unangenehm­e Situation gebracht haben könnte“. Das tue ihm leid, „es spiegelt nicht wider, wer ich bin“.

Und das sind noch nicht alle schlechten Nachrichte­n, die Hollywood aufs Neue erschütter­n. Denn auch Brett Ratner, 48, Regisseur von Blockbuste­r-streifen wie „Rush Hour“(mit Chackie Chan), steht im Fokus. Sechs Frauen beschuldig­en ihn in der sie sexuell belästigt oder missbrauch­t zu haben. So berichtet die Schauspiel­erin Natasha Henstridge, Ratner habe sie Anfang der neunziger Jahre zu Oralsex gezwungen. Auch Kollegin Olivia Munn geht sehr ins Detail. Beide Frauen erklären, die Debatte um Harvey Weinstein habe sie ermutigt, die Vorwürfe jetzt öffentlich zu machen.

Der Regisseur weist die Anschuldig­ungen über seinen Anwalt „kategorisc­h“zurück. Doch die Branche reagiert sofort. Ratners geplantes Regieproje­kt über den kürzlich verstorben­en Gründer Hugh Hefner wird – ähnlich wie im Fall Spacey die neue „House of Cards“-staffel – kurzerhand auf Eis gelegt. Man sei „tief besorgt“über die Vorwürfe gegen Ratner, sagt ein Sprecher von Playboy Enterprise­s.

Was folgt noch? Diese Geschichte mit all ihren Details ist schon jetzt kaum zu glauben.

 ??  ?? Typisch britisch: Künstler haben am Mittwoch in Edenbridge in der Grafschaft Kent diese Skulptur aufgestell­t, die den Us filmproduz­enten Harvey Weinstein zeigt. Sie wird am Samstag am Rande eines Feuerwerks verbrannt. Dieses Prozedere, bei dem Geld für...
Typisch britisch: Künstler haben am Mittwoch in Edenbridge in der Grafschaft Kent diese Skulptur aufgestell­t, die den Us filmproduz­enten Harvey Weinstein zeigt. Sie wird am Samstag am Rande eines Feuerwerks verbrannt. Dieses Prozedere, bei dem Geld für...
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Foto: Strauss/invision/ap, dpa Entschuldi­gt Hoffman. sich: Schauspiel­er Dustin
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Foto: Neal/pa Wire, dpa Zurückgetr­eten: Michael Fallon. Verteidigu­ngsministe­r
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Foto: Nina Prommer, dpa Negativ in Erscheinun­g getreten: Regis seur Brett Ratner.
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Foto: Matt Crossick/pa Wire, dpa Beschuldig­t: Schauspiel­er Kevin Spacey.

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