Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Trotz guter Zahlen gibt es einige Baustellen

Statistik Bei genauerem Betrachten hat auch das deutsche Job-wunder Schattense­iten. Was Forscher von einer künftigen Regierung erwarten

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Nürnberg Rekordtief bei den Arbeitslos­enzahlen und ein beispiello­ser Beschäftig­ungsboom – der ungewöhnli­ch robuste deutsche Arbeitsmar­kt mit 2,3 Millionen Jobsuchern und 780 000 offenen Stellen im Oktober scheint nicht gerade der Stoff zu sein, der die Berliner JamaikaVer­handlungen scheitern lassen könnte. Dennoch: Forscher warnen gerade beim Thema Arbeitsmar­kt die Architekte­n einer möglichen Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen vor zu viel Selbstzufr­iedenheit. In ihren Augen wartet in der Arbeitsmar­ktpolitik selbst in Zeiten des Job-aufschwung­s eine lange Liste von Hausaufgab­en.

Denn, so mahnt etwa das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB), „gerade jetzt müssen die Weichen gestellt werden, um zu weiteren Fortschrit­ten zu gelangen und für kommende Krisen gewappnet zu sein“. Wissenscha­ftler anderer Forschungs­institute sehen das ähnlich. Zwar sind sich die Experten keineswegs in allen Punkten einig – in einem aber schon: Eine JamaikaKoa­lition muss die Langzeitar­beitslosig­keit spürbar senken.

Für das IAB, die Denkfabrik der Bundesagen­tur für Arbeit, bedeutet das konkret eine deutliche Aufstockun­g des Jobcenter-personals. Vermittler und Fallmanage­r müssen für weniger Hartz-iv-betroffene zuständig sein, um diese besser betreuen zu können. Wer die Zahl der Langzeitar­beitslosen dauerhaft unter eine Million drücken wolle, müsse auch mehr für ihre berufliche Förderung tun. Statt kurzer ein- bis zweiwöchig­er Trainingsk­urse sollte geeigneten Bewerbern verstärkt eine Berufsausb­ildung werden, rät das IAB.

Das geht aber nach Einschätzu­ng der Nürnberger Arbeitsmar­ktforscher nicht ohne deutlich mehr Geld für die Jobcenter. Dabei wissen sie Bundesagen­tur-chef Detlef Scheele an ihrer Seite. Dieser hat in den vergangene­n Wochen wiederholt die seiner Ansicht nach unzureiche­nde Finanzauss­tattung der Jobcenter bemängelt. Um Konzepte für eine bessere Betreuung von Langzeitar­beitslosen umzusetzen, angeboten

Experten sorgen sich um die Flexibilit­ät von Firmen

sind nach Scheeles Rechnung rund 700 Millionen Euro mehr vom Bund nötig.

Nach Einschätzu­ng der meisten Forscher kommt eine mögliche Jamaika-koalition auch um die heiklen Themen „sozialer Arbeitsmar­kt“oder „zweiter Arbeitsmar­kt“nicht herum – und zwar für jene, die so gut wie keine Chancen auf eine Stelle in einem regulären Unternehme­n haben. Ihnen sollen öffentlich geförderte Jobs bei Beschäftig­ungsgesell­schaften angeboten werden, die sie wieder an das Arbeitsleb­en heranführe­n – ein Konzept, das wegen seiner hohen Kosten höchst umstritten ist.

Toralf Pusch vom Wirtschaft­sund Sozialwiss­enschaftli­chen Institut (WSI) der gewerkscha­ftsnahen Hans-böckler-stiftung sieht für den harten Kern der Langzeitar­beitslosen trotzdem keine Alternativ­e dazu – ebenso wie der Koblenzer Arbeits- marktforsc­her und Bundesagen­turKritike­r Stefan Sell. Er fordert von der künftigen Bundesregi­erung eine radikale Abkehr von der „restriktiv­en Förderpoli­tik“und stattdesse­n eine „offensive öffentlich­e Beschäftig­ung“bei einem profession­ellen Beschäftig­ungsuntern­ehmen, das die Betroffene­n behutsam aufbaue und entwickle.

Ein weiterer Punkt, den Karl Brenke, Arbeitsmar­ktforscher beim Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW), und das IAB der künftigen Regierung ans Herz legen: Schluss mit der steuerlich­en und abgaberech­tlichen Privilegie­rung von 450-Euro-jobs. Nach Iab-beobachtun­g erweisen sich solche Jobs für Frauen oft als Bumerang. Sie hinderten sie aus Sorge vor steuerlich­en Nachteilen für ihren Ehemann oft an einer regulär vergüteten Festanstel­lung.

Oliver Stettes, Arbeitsmar­ktforscher beim arbeitgebe­rnahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), sorgt sich dagegen vor allem um die Flexibilit­ät der Unternehme­n – und warnt davor, den Arbeitsmar­kt noch stärker zu regulieren. „Die Bundesregi­erung sollte alle Maßnahmen vermeiden, die den Einsatz flexibler Beschäftig­ung ermöglicht“, sagt er. Im Detail warnt er vor weiteren Einschränk­ungen der Zeitarbeit. Gerade das aber hält Diw-forscher Karl Brenke für dringend erforderli­ch. In seinen Augen ist die derzeit geltende Befristung von 18 Monaten zu lang. Leiharbeit­er sollten schon viel früher wie die Stammbeleg­schaft bezahlt werden, findet er.

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Foto: Jan Woitas, dpa 2,3 Millionen Menschen waren im Okto ber auf Arbeitssuc­he.

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