Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Dult und Oktoberfest wegen Cholera abgesagt
Medizingeschichte Seuchen wüteten über Jahrhunderte in Augsburg. Manchmal vergrößerten die Therapieversuche die Ausbreitung der Krankheiten. Irgendwann fingen die Bürger selbst an zu handeln
Der Feind hatte viele Namen. Zwischen 1042 und 1628 brachen 22 Seuchen aus, die in den Stadtchroniken und Sterberegistern der Einfachheit halber Pest genannt werden. Vom Mittelalter bis weit ins 16. Jahrhundert galten die Sündhaftigkeit der Menschen und der „gerechte Zorn Gottes“als Grund für den „Schwarzen Tod“, der tausende Opfer forderte. Noch 1587 rief Bischof Marquard II. die Augsburger Geistlichen auf, „Gegen Pestilenz, Teuerung und Kriegsgefahr“Bußpredigten und Bittprozessionen abzuhalten. Dass gerade diese Versammlungen zur Verbreitung der Pest-bakterien beitrugen, stellte sich erst im 19. Jahrhundert langsam heraus. Ein Dokument zählt die Toten der großen Pestwellen von 1563, 1592 sowie zwischen 1600 und 1634. Allein im Jahr 1634 verzeichnete die Statistik 11 000 Tote in Augsburg.
„Der Feind in der Stadt. Vom Umgang mit Seuchen in Augsburg, München und Nürnberg“heißt die kleine, aber feine Ausstellung, die derzeit in den neuen Räumen des Stadtarchivs gastiert. Vier Archivreferendare, darunter die Augsburger Dominik Feldmann und Andrea Jacoby, zeichnen für die Wanderausstellung verantwortlich. Reproduktionen und Originaldrucke aus ihren Archiven dokumentieren, wie Bevölkerung, Räte und Bauverwaltungen auf die Seuchen im Verlauf der Jahrhunderte reagierten. Die Augsburger fügten ihrem Konzept noch 15 exklusive Exponate hinzu, die in dem kleinen Katalog nicht enthalten sind, aber die Entwicklungen in der ehemaligen Reichsstadt am Lech extra beleuchten.
Handel und Reisen waren in Seuchenzeiten nur noch gegen Vorlage eines vom Rat gestempelten Gesundheitspasses möglich. Die Ausstellung zeigt ein solches Augsburger Dokument, das seinem Inhaber 1733 bestätigt, dass er aus einer Stadt kommt, „in der nur gesunde frische Luft und keine ansteckenden Krankheiten vorhanden“sind. 40 Tage lang öffnete dieser Pass Tür und Tor.
Mit der Aufklärung und Industrialisierung verloren kirchlich empfohlene Gebete und Prozessionen ihre Bedeutung. Erstmals gelangen Forschern medizinische Experimente über die Bedeutung von Hygiene sowie über Ausbruch und Verlauf der verheerenden Epidemien. Auch der Bau des Augsburger Stadtbades im 19. Jahrhundert ist eine Folge neuer medizinischer Er- kenntnisse. In der Bevölkerung regte sich ein neues Selbstbewusstsein. Als 1854 ein neuer Cholera-ausbruch drohte, zwangen die Augsburger aus Angst vor ihrer Verbreitung den Magistrat der Stadt, gegen den Willen der Händler die Dult abzusagen. Aus demselben Grund fiel in diesem Jahr auf Druck der Bürger auch das Münchener Oktoberfest aus. Die Fabrikarbeiter der neuen Fabriken rückten zusammen. Lange bevor Bismarck sein Sozialversicherungssystem startete, gründeten die Arbeiter eigene Krankenversicherungsvereine. Ein im Vergleich mit Nürnberg und München besonderes Projekt ist der Augsburger „Allgemeine weibliche Kranken-unterstützungsverein“. Der in der Ausstellung gezeigte siebenseitige Bericht listet die jährliche Mitgliederzahl, das Vereinsvermögen und die ausgezahlten Summen zwischen 1867 und 1892 auf. Mit dem Geld wurden Haushaltshilfen bezahlt, die während der Krankheit einer Hausfrau einsprang. Hatte der von Männern gegründete Verein im ersten Jahr 334 Mitglieder, standen bis 1880 bereits über 800 Frauen im Register.
Die erste Ausstellung in den neuen Räumen des Stadtarchivs öffnet ein spannendes, bisher blindes Schaufenster in die lokale politische, medizinische und kulturgeschichtliche Seuchenbekämpfung. Erstmals erlauben die elf neuen, klimatisierten Vitrinen – bezahlt aus einer Spende der Langner’schen Stiftung –, über Jahrhunderte eingemottete Stadtgeschichte im Licht der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Ein weiteres interessantes Kapitel der Augsburger Medizingeschichte hat der Hobbyhistoriker Johannes Wilhelms erforscht. In einem Vortrag hat er nun nachgezeichnet, wie aus den ersten Blattern-, Lepra- und Pesthäusern schließlich der moderne Medizinstandort Augsburg wur- de. Der Weg bis dahin war ein langer, denn er beginnt bereits im 13. Jahrhundert. Insgesamt 18 Spitäler für diverse Seuchen konnte Johannes Wilhelms im Verlauf seiner Recherchen für das Mittelalter und die Neuzeit im Augsburger Stadtarchiv identifizieren. Zwar waren sie im Einzelnen bereits bekannt. Doch der Verdienst des Hobbyhistorikers und langjährigen Pflegedienstleiters im Klinikum ist es, die Orte, an denen die Kranken der Stadt über die Jahrhunderte versorgt wurden, systematisch aufbereitet zu haben.
Mit den Kreuzzügen des Mittelalters brachten die heimkehrenden Ritter und Räuber die Lepra nach Europa. Sie gilt bis heute als besonders heimtückisch, weil sie noch Jahrzehnte nach der Infektion ausbrechen kann. Die Erreger befallen die Nerven und führen zu Schmerzunempfindlichkeit, sodass Finger und Zehenspitzen durch ständige Verletzungen verkürzt werden. Lepra ist nicht unmittelbar tödlich und trägt bis heute den Beinamen „lebender Tod“.
Wer befallen war, wurde vor die Mauern der Stadt geschafft. Das erste Augsburger „Leprosium“(Siechenhaus), St. Servatius, stand vor dem Roten Tor, nördlich der Friedberger Straße. Gestiftet wurde es von der Patrizierfamilie Langenmantel im Jahr 1264. Damit sich die Investition in das Seelenheil auch auszahlte, mussten die Lepra-patienten täglich mehrmals für die Stifter beten. Sie durften an der Ausfallstraße betteln, mussten ihr Umfeld jedoch mit Rasseln und besonderer Kleidung auf ihre Aussätzigkeit aufmerksam machen. Weil die zunächst nur acht, später 19 Lagerplätze trotz der Ansteckungsgefahr auch unter den Gesunden begehrt waren, führte der Magistrat ein strenges Auswahlregiment. Kostenlose Pflege, Essen und Trinken im Leprosium gab es nur bei gesicherter Diagnose durch einen Wundarzt, der zudem die Aufgabe hatte, die Geheilten wieder auszusondern.
Auch außerhalb der Jakobervorstadt, hinter der heutigen Oblatterwallstraße 14, entstand 1448 ein Siechenhaus: St. Sebastian nahm nur Frauen auf; für Männer gründete die Stadt im selben Jahr das Leprosium vor dem Wertachbrucker Tor in der heutigen Wolfgangstraße. Nach dem 17. Jahrhundert, so erklärt Johannes Wilhelms während seines Vortrags im Stadtarchiv, fand die Lepra kaum noch Erwähnung.
Dafür sorgte eine neue Seuche aus dem eben entdeckten Amerika für Angst und Schrecken: Die Blattern (Syphilis), auch Franzosen-krankheit genannt, weil sie ab 1494 besonders französische Söldner heimsuchte. „Das städtische Blatterhaus beim Roten Turm in der damaligen Blatterhausgasse bei der Kahnfahrt war das Erste seiner Art in Süddeutschland“, berichtet Wilhelm. Schon 1495 eröffnet, war es 300 Jahre in Betrieb. Ein Arzt, ein Wundarzt und eine Pflegerin taten dort Dienst. Therapie: Quecksilbersalbe. Manche Patienten mussten verdampftes Quecksilber inhalieren. Da der Stoff teuer und die Stadt sparsam war, war der Handel auch für die damals fünf Apotheken lukrativ.
Das Blatterhaus in der Fuggerei nahm ab 1523 20 katholische Patienten auf. Hier arbeiteten die fest angestellten Ärzte mit Gujakholz, das die Fugger aus Südamerika importierten und für Schwitzkuren verbrennen, für Tees aufgießen ließen.
Den größten Schrecken verbreitete wohl der „schwarze Tod“. Zwi-
Auch das Personal steckte sich an
schen 1618 und 1635 rafften Krieg und Pest insgesamt 31 000 der knapp 50 000 Einwohner dahin. Neben dem Blatterhaus entstand das „Kleine Brechhaus“, das „Große Brechhaus“für bis zu 130 Patienten errichtete die Stadt vor dem Steffinger Tor, bei der Kirche St. Sebastian. Drei Ärzte waren bei guter Bezahlung für die Pestkranken abgeordnet, hinzu kamen Balbiere, Knechte und Trostleute. Doch auch das Personal steckte sich an. 1628 wurde der Pestarzt Henisius aus Ulm nach Augsburg geholt, nachdem zuvor sieben Ärzte der Seuche zum Opfer gefallen waren.
Die Zustände müssen erbarmungswürdig gewesen sein: kein fließendes Wasser, Gestank und Geschrei. Zwar hatte Augsburg vergleichsweise viele Betten, erklärt Wilhelms. Doch von „Versorgung“könne für die Armen der Stadt nicht die Rede sein. „Die Reichen flohen und zogen sich schon damals ins Allgäu oder in die Berge zurück. Das war sicher die wirksamste Therapie gegen jede Infektion“, so sein Fazit.
der Ausstellung „Der Feind in der Stadt“im Augsburger Stadtarchiv (Zur Kammgarnspinnerei 11) bis 24. No vember, geöffnet montags bis donners tags von 8 bis 12 Uhr und 13 bis 17 Uhr, freitags von 8 bis 12 Uhr. Eintritt frei. Führungen am 7. und 21. November jeweils um 19 Uhr.