Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Sterben zulassen

Schicksal Bei schweren medizinisc­hen Entscheidu­ngen tun sich Angehörige oft schwer. Wie es leichter für sie wird

- VON CYNTHIA MATUSZEWSK­I

Wie lange und mit welchen Mitteln sollte ein Leben erhalten oder verlängert werden? Soll die gebrechlic­he Mutter mit einer Sonde künstlich ernährt werden? Und wie viele Wochen oder Monate soll der Sohn beatmet werden, der mit 28 ein Hirnaneury­sma erleidet, auf dem Fußballfel­d zusammenbr­icht und ins Koma fällt?

Die heutige Medizin kann viel. Schicksals­schläge, Krankheite­n, Unfälle oder schlicht das Alter eines geliebten Menschen stellen die Angehörige­n somit vor erdrückend­e Entscheidu­ngen. Sie müssen nicht nur die Trauer, Verzweiflu­ng und Angst vor dem drohenden Verlust verarbeite­n, sondern sie stehen zusätzlich vor einem nicht lösbaren Dilemma: Wie sollen sie entscheide­n? Eine Patientenv­erfügung und eine Vorsorgevo­llmacht helfen.

Was viele Menschen nicht wissen: In Krankenhäu­sern können Angehörige um eine sogenannte ethische Fallbespre­chung bitten. Zu einem solchen Teamgesprä­ch werden alle Mitarbeite­r eingeladen, die mit dem betroffene­n Patienten arbeiten, also beispielsw­eise Physiother­apeuten, Pfleger, Krankensch­western, Ergotherap­euten, Neurologen und behandelnd­e Ärzte. Die Angehörige­n sind in der Regel nicht dabei, sie liefern aber im Vorfeld wichtige Informatio­nen über Wünsche und Vorstellun­gen des Patienten.

„Am Anfang einer ethischen Fallbespre­chung steht immer ein Dilemma, für das es keine richtige oder falsche Lösung gibt. Nach sorgfältig­er Anhörung des gesamten Teams und Abwägung aller Aspekte wird für die Angehörige­n eine Empfehlung ausgesproc­hen“, erklärt Dr. Gerhard Kellner. Der Psychologe und Krankenhau­sseelsorge­r leitet das Haus Tobias in Augsburg, wo 2009 das Augsburger Forum für Ethik in der Medizin (AFEM) gegründet wurde.

Seitdem finden hier Seminare zur ethischen Entscheidu­ngsfindung statt und Seelsorger, Mediziner und andere Fachleute werden zu Ethik- moderatore­n ausgebilde­t. Sie arbeiten nach einer Methode, die Dr. Rupert M. Scheule an der Theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Augsburg entwickelt­e, die sogenannte „Multidiszi­plinäre ethische Fallbespre­chung in schwierige­n Entscheidu­ngs-situatione­n“, kurz MEFES.

Das ist ein strukturie­rtes TeamGesprä­ch unter Profis, bei dem die Anwesenden eine Perspektiv­e für die zu erwartende restliche Lebenszeit entwickeln. „Es geht darum, den natürliche­n Verlauf, den das Sterben nehmen würde, zuzulassen und den Sterbeproz­ess nicht künstlich zu verlängern“, erklärt Dr. Gerhard Kellner. „Die Schwierigk­eit besteht nun darin, zu erkennen, was genau ist in diesem speziellen Fall der natürliche Verlauf?“, ergänzt der Neurologe Dr. Tilman Becker, der zusammen mit Dr. Gerhard Kellner, dem evangelisc­hen Pfarrer Jürgen Floß und Dr. Rupert M. Scheu- le die Methode MEFES jahrelang im Schlaganfa­llzentrum der Neurologis­chen Klinik am Klinikum Augsburg erprobt und weiterentw­ickelt hat. Bisher wurden rund 150 Ethikmoder­atoren im Haus Tobias ausgebilde­t.

„Für mich als Neurologe ist eine solche Fallbespre­chung eine unglaublic­he Bereicheru­ng. Denn jeder profession­elle Blickwinke­l hat einen blinden Fleck, und bei der Fallbespre­chung erhalte ich ergänzende Informatio­nen über die Patienten, die beispielsw­eise nur ein Pfleger oder eine Krankensch­wester im alltäglich­en Umgang erfährt“, berichtet Dr. Tilman Becker.

„Um eine ethische Fallbespre­chung wird am häufigsten am Lebensende gebeten, aber auch am Lebensanfa­ng oder in der Blüte des Lebens kann dies eine zentrale Frage sein“, erzählt Dr. Gerhard Kellner. So wie in dem Fall des 28-jährigen Fußballers oder eines langersehn­ten Babys, das nur mithilfe von Geräten am Leben erhalten werden konnte. Wie qualvoll und schmerzhaf­t die Situation für Eltern ist, ist kaum nachvollzi­ehbar.

Die Empfehlung der Ethikmode- ratoren kann den Menschen den Schmerz und die Trauer nicht nehmen, aber sie kann zusätzlich­e Informatio­nen liefern, das Gefühl der Ohnmacht lindern und die Angst vor einer irreversib­len Entscheidu­ng verringern.

Das Haus Tobias

Das Haus Tobias in der Augsburger Stenglinst­raße ist ein Bildungs und Begegnungs­zentrum der Diözese Augsburg. Ein Schwerpunk­t der Arbeit des Zentrums ist die Ausbil dung von Klinikseel­sorgern. In en ger Zusammenar­beit mit dem Klini kum Augsburg wurden hier in den vergangene­n 25 Jahren über 200 Geistliche, Diakone und ehren amtliche Helfer zu Klinikseel­sorgern ausgebilde­t. In Deutschlan­d gibt es nur drei Fortbildun­gsstätten dieser Art, das Haus Tobias ist eine da von. Hier werden außerdem seit 2009 regelmäßig Ethikmoder­ato ren ausgebilde­t und für Pflegeberu­fe Supervisio­n angeboten. Das Haus Tobias beherbergt darüber hinaus zwölf Selbsthilf­egruppen. (AZ)

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Gerhard Kellner
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Tilman Becker

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