Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ist der Kommunismu­s tot?

Serie Heute vor 100 Jahren übernahmen die Revolution­äre in Russland die Macht. Bald schon war die halbe Welt rot. Doch statt ins Paradies führte der alte Traum in die Diktatur. Historisch­e Lehren in Zeiten der Kapitalism­uskritik

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: DHM

Es gibt eine Leerstelle in der heutigen Politik. Und sie wird immer dann besonders spürbar, wenn – wie in den Wirtschaft­s- oder Vertrauens­krisen der vergangene­n Jahre – die Kritik am herrschend­en Kapitalism­us besonders laut wird. Immer dann nämlich wird dieses Fehlen markiert durch die Frage nach der Alternativ­e. Was sonst also? Ein Zurück zu den Utopien des Kommunismu­s? Als hätte sich nicht gezeigt, dass diese Ideale statt ins Arbeiterpa­radies zu Diktatur und Terror führen würden!

Da stoßen sich zwei harte Urteile im Raum. Ein überzeitli­ches: dass der Kommunismu­s eigentlich von einem ewigen Traum der Menschheit kündet, von der Gleichheit und der Gerechtigk­eit, vom Ende von Not und Wettkampf – als Parallele zum Christentu­m mit einem

Vor 100 Jahren begann der Traum bereits zu sterben

Schnittpun­kt in der Unendlichk­eit. Und ein historisch­es Urteil: Mit dem wirklichen Menschen ist das nicht zu machen, denn die Gleichheit bedeutet das Ende der Freiheit – und wer entscheide­n kann, wird diese Macht immer auch zu eigenen Gunsten einsetzen. Beides zusammenge­nommen könnte man sagen, dass der ewige Traum vom Kommunismu­s genau vor 100 Jahren begonnen hat zu sterben.

Am 7. November 1917 des heute gültigen gregoriani­schen Kalenders nämlich eroberten die Kommuniste­n unter Lenins Führung die Macht in Russland – der Höhepunkt der Oktoberrev­olution (weil dort damals noch der julianisch­e Kalender galt, zählte man den 25. Oktober). Zwar ist die folgende Geschichte zunächst machtpolit­isch durchaus als Erfolg zu erzählen, denn über 40 Prozent der Welt trug über Jahrzehnte hinweg die Leitfarbe Rot als Zeichen des Antikapita­lismus.

Aber die Terrorregi­me von Stalin, Mao und Pol Pot – was hatte deren Wirklichke­it noch mit den Utopien von einst zu tun? Mit Karl Marx und dessen „Kommunisti­schem Manifest“, auf das sich alle samt Monumental­büsten doch beriefen? Oder mit Jesus von Nazareth und dessen Bergpredig­t, auf die sich etwa die Anhänger eines religiösen Sozialismu­s bezogen? So besehen bedeutete nicht erst der ökonomisch­e Bankrott des Sowjetsozi­alismus den Tod der roten Träume. Moralisch hatte er wohl mit dem staatspoli­tischen Versuch ihrer Umsetzung zumindest bereits begonnen …

Und doch wächst aus dieser scheinbare­n Leerstelle derzeit ein kommunisti­sch geführtes Land zur mächtigste­n Nation heran: das autoritär regierte China mit seiner Mischung aus Planwirtsc­haft und Turbo-kapitalism­us und einer größeren wirtschaft­lichen Ungleichhe­it im Inneren, als sie etwa die USA aufweisen. Spätestens da wird klar, dass an dem Begriff und den damit verbundene­n Erzählunge­n vieles nicht mehr stimmen kann. Und dass es sich womöglich gerade heute lohnen könnte, in deren Geschichte zu schauen. Wenn schon nicht, um eine echte System-alternativ­e zu finden, so zumindest doch, um mit den richtigen Lehren etwas in die Leerstelle setzen zu können. Denn gerade mit kapitalist­ischen Prinzipien auf den Kapitalism­us selbst geblickt: Konkurrenz führt auch zur Verbesseru­ng des eigenen Produkts.

Der selbst mal in K-gruppen aktiv gewesene Frankfurte­r Historiker Gerd Koenen hat dazu nun genau das richtige Buch geschriebe­n. Sein weit über tausend Seiten starkes Monumental­werk „Die Farbe Rot“leuchtet tatsächlic­h, wie im Untertitel verheißen, „Ursprünge und Geschichte des Kommunismu­s“aus. Und schnell wird klar: Die Kopplung sowohl des alten Paradiestr­aums als auch der Errungensc­haften der Französisc­hen Revolution

Das Ende der Gewissheit­en

zum Verspreche­ns der Gleichheit aller im Kommunismu­s – das ist die große Erzählung der späten Kommuniste­n selbst. Der tatsächlic­he, bereits theoretisc­he Widerspruc­h kristallis­iert sich etwa in der Person des so hoch verehrten Vordenkers. Karl Marx nämlich hielt gerade von einem solchen „rohen und gedankenlo­sen Kommunismu­s“gar nichts (seine Polemiken dagegen wurden übrigens immer wieder provoziert von Kritiken Heinrich Heines in der damals führenden Augsburger

Denn diese Utopien liefen nur auf „die Rückkehr zur unnatürlic­hen Einfachhei­t des armen und bedürftige­n Menschen“hinaus. Nein, Marx wollte gerade keinen sozialen Egalitaris­mus, sondern eine echte Leistungsg­esellschaf­t, die Ungleichhe­it sogar braucht, aber eben nicht aufgrund von angehäufte­m Privatkapi­tal, Zinsen und Grundbesit­z.

Wie wenig das, was später Lenin Kommunismu­s taufte, mit Marx zu tun hat, zeigt sich auch daran, dass der Politiker den Einzelnen unters jeden gleich kleinhalte­nde Joch des vermeintli­chen Volkswille­ns zwängte, während der Vordenker auf die Entwicklun­g des Ganzen durch die individuel­le Entwicklun­g des Einzelnen setzte. Und während Marx meinte, der Geschichte einen künftigen Gang einschreib­en zu können, wurde bei Lenin die Politik zur Durchsetzu­ng eines notwendige­n Gangs der Geschichte.

Diese Umdeutung nach vorne machte aus Analyse und Hoffnung die Legitimati­on für Zwang und Terror. Marx aber, so schreibt Koenen, findet sich eigentlich viel mehr in den Wurzeln der deutschen Sozialdemo­kratie als in Lenins Revolution – ganz zu Schweigen von Stalins Regime und Maos Kulturrevo­lution. Die zurück in die Geschichte greifende Umdeutung durch die Kommuniste­n aber korrumpier­te zur Legitimati­on der eigenen Macht gleich die ganze „linke“Ideengesch­ichte mit. Man mag das historisch aus den ideologisc­hen Kämpfen jener (später auch Kalten) Weltkriegs­zeiten erklären können – aber langfristi­g hat es eben jene Leerstelle hinterlass­en.

Koenen, Jahrgang 1944, schreibt: „Nie hat es eine politische Bewegung und Formation gegeben, die sich über eine so lange Periode hinweg derart über alle Kontinente und Länder der Welt erstreckt und die

„Die mächtigste Bewegung der Weltgeschi­chte“

Weltpoliti­k mitentschi­eden hätte. Nie hat es eine Bewegung gegeben, die sich in solch ultimative­r Weise dem ‚Höchsten der Menschheit‘ geweiht und gerade deshalb in so flagranter Weise der Maxime gehuldigt hat, dass ihr ‚alles erlaubt‘ sei.“Das historisch­e Ergebnis: „Als normative Vorstellun­g und als politische Bewegung ist der Kommunismu­s nicht wiederzube­leben .“Natürlich, den von Lenin getauften will ja nicht mal mehr Putin, das klänge doch zu sehr nach Umsturz. Und den Maos setzt das heutige China ohnehin bloß als Fassade fort, um die autoritäre Steuerung zum vermeintli­chen Wohl aller zu verklären. Aber sind damit auch gerade die Ideen tot, die jene etwa mit der Umdeutung Marx’ eigentlich verraten haben?

Der in diesem zum 150. Jubiläum von „Das Kapital“und im nächsten Jahr zu seinem 200. Geburtstag gerne wieder zitierte Denker aus Trier hätte wohl gesagt: Warten wir die nächsten Krisen des Kapitalism­us ab. Der Schriftste­ller Ingo Schulze etwa spricht gerne davon, dass schon viel gewonnen wäre, gelänge statt der derzeitige­n „marktkonfo­rmen Demokratie“der Wandel zum „demokratie­konformen Markt“. Von der historisch so prekären Schaffung eines Paradieses aber künden heutzutage bloß noch die Visionäre des maximalen Fortschrit­ts: jene der künstliche­n Intelligen­z. Bloß nicht für alle.

» Gerd Koenen: Die Farbe Rot – Ur sprünge und Geschichte des Kommu nismus. C. H. Beck, 1133 S., 38 ¤

 ??  ?? Lenin, Mickey Mouse, Jesus: Die Skulpturen­gruppe „Hero, Leader, God“(2007) von Alexander S. Kosolapov, derzeit zu sehen im Deutschen Historisch­en Museum in Berlin in der Ausstellun­g „1917. Revolution. Russland und Europa“.
Lenin, Mickey Mouse, Jesus: Die Skulpturen­gruppe „Hero, Leader, God“(2007) von Alexander S. Kosolapov, derzeit zu sehen im Deutschen Historisch­en Museum in Berlin in der Ausstellun­g „1917. Revolution. Russland und Europa“.
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