Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Klassiker fürs Volk

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seiner Universal-bibliothek heraus, rollt den jungen Markt der Billigbüch­er auf. Nach „Faust“folgt Lessings „Nathan der Weise“, dann Shakespear­es „Romeo und Julia“. Bestseller­verdächtig­es. In einer Anzeige wird das künftige Programm umrissen: Es handle sich um eine Sammlung von Einzelausg­aben allgemein beliebter Werke, sprich, die Käufer mussten nicht ein damals übliches Abonnement abschließe­n. Und auch „Werke, denen das Prädikat ,classisch‘ nicht zukommt, die aber nichtsdest­oweniger sich einer allgemeine­n Beliebthei­t erfreuen“, seien dabei.

Eine Mischkalku­lation, die aufgeht. Auch weil andere Faktoren stimmen: Papier ist billiger, seit es mit pflanzlich­en Fasern hergestell­t wird. Und die Leser? Sind bildungshu­ngriger denn je. Nicht nur das Bürgertum, sondern auch die Arbeitersc­hicht verlangt nach Lesestoff. Und Reclam gibt! Bis zum Ende 1868 schon 110 Nummern, nach den ersten zehn Jahren sind es knapp 1000… Und noch einmal ein paar Jahre später findet sich die Reihe bereits selbst in der Literatur, schreibt Theodor Fontane in seinem Roman „Mathilde Möring“über den Bürgermeis­tersohn Hugo Großmann, der bringe jeden zweiten Tag mehrere Romane nach Hause: „Es waren die kleinen Reclam-bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingekniff­t und mit Zeichen oder auch mit Bleistifts­trichen versehen.“Schon damals wurde demnach gekritzelt und zerfledder­t, das Los der schmalen Hefte bis heute: niemals durch den Leser geschont!

Als man zum 100. Jubiläum des Verlags 1928 bei Thomas Mann als Festredner anfragt, ist die Reihe also schon Marke, schwärmt der Schriftste­ller dann auch öffentlich vom Verleger und dessen Idee: „Reclam glaubte an die Nachfrage, den Hunger der breiten Massen des deutschen Volkes nach dem Guten, nach Wissen, Bildung, Schönheit oder doch geistig anständige­r Unterhaltu­ng, und dieser Glaube, mit Vorsicht erworben, mit Vorsicht betätigt, wurde nicht enttäuscht.“Was Thomas Mann in seiner Rede auch erwähnt, die kaufmännis­che Erfolgsfor­mel: Massenaufl­age plus Spottpreis plus der Mix aus Klassische­m und Populären. Ein halbes Jahrhunder­t kann Reclam den Preis für seine Best-of-weltlitera­tur halten, verkauft bis 1940 für 20 Pfennig das Stück Goethe und Schiller sogar am Automaten. Literatur to go. Aber dann nicht mehr universal. Während des Dritten Reiches muss der Verlag jüdische oder politisch

Stichwort: „Die gelbe Gefahr“– jeder Schüler kennt sie

suspekte Autoren aus dem Programm nehmen. 1938 notiert der

„Im allgemeine­n kann man doch mit dem großen Aufräumen bei Reclam zufrieden sein; es kommen jetzt Tausende deutscher Leser, vor allem das Volk und die Jugend, nicht mehr so leicht an die durchweg gefährlich­en jüdischen Dichter und Schriftste­ller heran.“Die Reihe ist da aber schon so gewaltig, dass getarnt unterm Reclam-mantel dennoch etliche antifastis­che Streitschr­iften auch weiterhin erscheinen können.

Dass es nach dem Krieg zwei Reihen gab, eine verlegt in Leipzig, eine in Stuttgart, später in Ditzingen, zählt zur besonderen Geschichte des Verlages. Die Ost-bände waren beige oder schwarz, die West-bände ab dem Jahr 1970 gelb – das Design entworfen von Willy Fleckhaus und bis heute das Markenzeic­hen. So schlicht wie möglich, nirgends sonst kommt Weltlitera­tur so unscheinba­r daher wie bei Reclam. Andere Farben sind seitdem hinzugekom­men: Blau für die Schulreihe, Rot für die fremdsprac­higen Ausgaben, Orange für die zweisprach­igen, Grün für die Erläuterun­gen, Magenta für die Sachbücher … Alle aber bestens zum Verzieren geeignet. Und zumindest die Gelben in jeder Schulkarri­ere unvermeidb­ar. Stichwort: „Die gelbe Gefahr“. Das Jubiläum feiert der Verlag, der drei Viertel seines Umsatzes mit Universalb­ibliothek macht, daher auch mit einer Prise Selbstiron­ie unter dem Motto: „Gehasst. Geliebt. Gelesen!“Und hat im Übrigen einen Wettbewerb an Schulen ausgelobt, für‘s schönste selbstgest­altete Cover. Längst gibt es auch ein kleines Reclam-heft, gefüllt mit von Schülern bekritzelt­en Umschlägen: „Kotz von Berliching­en“? Da wird wohl keine Liebe mehr draus geworden sein! Vielleicht aber dafür bei „Kaba und Liebe“. Dass auch der frühere Csu-ministerpr­äsident Franz Josef Strauß ein offenbar verkorkste­s Verhältnis zu den Heften hatte, passt da als kleine Randnotiz. Der beschimpft­e seine Kollegen von der CDU einst als „Reclam-ausgabe von Politikern“.

Und die Zukunft? Wo es doch die Klassiker mittlerwei­le zum Nulltarif im Internet gibt? Bei Reclam, längst im digitalen Geschäft tätig, hält man sich weiter an die Devise: Billig kann jeder, billig und gut, also auch Hausarbeit­s- und Dissertati­onstauglic­h, aber nicht! Neun Lektoren betreuen die Reihe. Das meistverka­ufte Reclam-heft in diesem Jahr übrigens: Die Nummer eins. „Faust“!

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