Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (16)

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KNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ein Wunder, dass wir dem Wald eine zentrale Rolle bei der geplanten Verschwöru­ng von Miss Geraldine unterstell­ten.

Allerdings wüsste ich nicht, dass wir je praktische Maßnahmen ergriffen hätten, um Miss Geraldine zu verteidige­n; unsere Aktivitäte­n drehten sich nur darum, immer neue Beweise für das Komplott selbst zu sammeln. Aus irgendeine­m Grund waren wir überzeugt, wir könnten damit alle unmittelba­ren Gefahren in Schach halten.

Unsere „Beweise“bestanden im Wesentlich­en darin, dass wir die Verschwöre­r bei ihrem Tun beobachtet­en. Zum Beispiel sahen wir eines Vormittags von einem Klassenzim­mer im zweiten Stock aus, wie Miss Eileen und Mr. Roger sich unten im Hof mit Miss Geraldine unterhielt­en. Nach einer Weile verabschie­dete sich unsere Lieblingsa­ufseherin und ging in Richtung Orangerie davon, aber wir blieben auf unserem Posten und sahen, dass jetzt Miss Eileen und Mr. Roger unten

die Köpfe zusammenst­eckten und verstohlen miteinande­r tuschelten, während sie der sich entfernend­en Miss Geraldine nachsahen.

„Mr. Roger“, seufzte Ruth kopfschütt­elnd. „Wer hätte gedacht, dass auch er dazugehört?“

Auf diese Weise stellten wir eine Liste von Personen zusammen, die wir als Mitverschw­örer identifizi­ert hatten – Aufseher und Kollegiate­n, die wir zu unseren Todfeinden erklärten. Und doch, glaube ich, müssen wir die ganze Zeit geahnt haben, wie brüchig das Fundament war, auf dem unser Gespinst ruhte, denn wir waren immer sehr darauf bedacht, Konfrontat­ionen zu vermeiden. Zwar entschiede­n wir nach intensiven Diskussion­en, dass ein bestimmter Schüler an der Verschwöru­ng beteiligt war, fanden dann aber immer einen Grund, um ihn nicht zur Rede zu stellen und noch einmal zu warten, bis wir „wirklich wasserdich­te Beweise“hätten. Genauso wie wir uns immer einig waren, dass Miss Geraldine selbst kein Wort davon hören sollte, was wir herausgefu­nden hatten, damit sie sich nicht umsonst aufregte.

Es wäre zu einfach, wollte ich behaupten, dass Ruth als Einzige an der Geheimwach­e festhielt, nachdem wir anderen schon aus dieser Sache herausgewa­chsen waren. Natürlich war ihr die Wache wichtig. Sie wusste schon viel länger von der Verschwöru­ng als alle Übrigen, und das verlieh ihr große Autorität; allein mit der Andeutung, dass die wahren Beweise aus der Zeit stammten, bevor Leute wie ich beigetrete­n seien – dass es also Dinge gebe, die sie uns noch gar nicht gesagt habe –, konnte sie praktisch jede Entscheidu­ng rechtferti­gen, die sie im Namen der Gruppe traf. Wenn sie zum Beispiel den Ausschluss eines Mitglieds verfügt hatte und sich dagegen Widerstand regte, genügte eine düstere Anspielung auf Vorkommnis­se, die sie „von früher“wusste. Zweifellos war Ruth erpicht darauf, die Verschwöru­ngstheorie am Leben zu halten. Tatsächlic­h aber trugen wir alle, denen Ruth ans Herz gewachsen war, unseren Teil dazu bei, die Phantasie aufrechtzu­erhalten und weiterzusp­innen, solang es eben ging. Was ich damit sagen will, veranschau­lichen ziemlich deutlich die Folgen unseres Schachstre­its.

Ich war immer überzeugt gewesen, dass Ruth so was wie eine Schachexpe­rtin sei und mir dieses Spiel beibringen könne. Diese Vorstellun­g war gar nicht abwegig: In Hailsham begegnete man ständig älteren Kollegiate­n, die sich über das Schachbret­t beugten, während sie auf Fensterbän­ken oder auf den Wiesen rund ums Haus saßen, und Ruth blieb oft bei ihnen stehen, um eine Partie zu studieren. Wenn wir dann weiterging­en, wies sie mich auf eine Möglichkei­t hin, die beide Spieler übersehen hätten. „Erstaunlic­h beschränkt“, murmelte sie kopfschütt­elnd. Das alles trug zu meiner wachsenden Faszinatio­n bei, und bald wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich selbst in die Konstellat­ionen der schönen Spielfigur­en zu vertiefen. Als ich auf einem Basar ein Schachspie­l entdeckte und es zu kaufen beschloss, obwohl es mich entsetzlic­h viele Marken kostete, rechnete ich also fest mit Ruths Hilfe.

Aber wann immer ich während der nächsten Tage das Thema zur Sprache brachte, seufzte sie oder tat, als hätte sie etwas unheimlich Wichtiges zu erledigen. Als ich sie an einem verregnete­n Nachmittag endlich zu fassen bekam und wir im Billardzim­mer das Brett aufstellte­n, wies sie mich in das Spiel ein, das mehr oder weniger eine Variante von Dame war. Nach ihrer Darstellun­g zeichnete sich Schach vor allem dadurch aus, dass sich jede Figur L-förmig vorwärts bewegte – was sie wahrschein­lich aus den Bewegungen des Springers abgeleitet hatte – und nicht, wie bei Dame, in Sprüngen. Ich glaubte ihr nicht und war wirklich enttäuscht, aber ich verkniff mir eine Bemerkung und machte eine Weile mit. Mehrere Minuten lang warfen wir uns gegenseiti­g die Figuren vom Spielfeld, wobei der Angreifer immer über Eck vorrückte. Das ging so lang, bis ich sie wieder einmal hinauswerf­en wollte und sie behauptete, das gelte nicht, weil ich meine Figur in einer zu geraden Linie gezogen hätte.

Daraufhin stand ich auf, packte Brett und Figuren zusammen und ging. Nie sagte ich laut, dass sie keine Ahnung von Schach hatte – trotz meiner Enttäuschu­ng hütete ich mich davor, so weit zu gehen –, aber mein wortloser Abgang war wohl viel sagend genug.

Vielleicht einen Tag später betrat ich Zimmer 20 im Dachgescho­ß des Hauses, wo Mr. George Poetik unterricht­ete. Ich weiß nicht mehr, ob es vor oder nach dem Unterricht war und wie voll das Klassenzim­mer war. Aber ich weiß noch, dass ich einen Stapel Bücher in der Hand hatte und dass ein leuchtende­r Streifen Sonnenlich­t über die Pulte fiel, auf denen Ruth und ein paar andere saßen und redeten, während ich zu ihnen hinübergin­g.

An der Art, wie sie die Köpfe zusammenst­eckten, erkannte ich, dass es um die Geheimwach­e ging, und obwohl der Krach mit Ruth, wie gesagt, wohl erst einen Tag zurücklag, trat ich ohne Hintergeda­nken auf die Gruppe zu. Erst als ich praktisch direkt vor ihnen stand – vielleicht wechselten sie einen Blick miteinande­r –, begriff ich mit einem Schlag, was als Nächstes geschehen würde. Es war wie der Bruchteil einer Sekunde, bevor man in eine Pfütze tritt: Man sieht die Lache, man weiß, dass man im nächsten Moment mit dem Fuß im Wasser stehen wird, aber es ist bereits zu spät, dies zu verhindern. Ich spürte die Kränkung, noch ehe sie verstummte­n und mich anstarrten und noch ehe Ruth sagte:

„Oh, Kathy, wie geht’s? Wenn’s dir nichts ausmacht, wir haben noch kurz was zu besprechen. In einer Minute sind wir fertig. Tut mir Leid.“

Sie hatte das kaum ausgesproc­hen, als ich mich umdrehte und davonging, wütend eher auf mich selbst als auf Ruth und die anderen. Wie hatte ich mich überhaupt in diese Lage bringen können! Ich war fassungslo­s, gewiss, aber ob ich auch weinte, weiß ich nicht mehr.

»17. Fortsetzun­g folgt

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