Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Andenken aus menschlich­em Haar

Museumsstü­ck Mit filigranen Kunstwerke­n erinnerte man früher an besondere Ereignisse. Im Schwäbisch­en Volkskunde­museum Oberschöne­nfeld ist ein solches Werk aus der Kaiserzeit zu sehen

- VON SANDRA LIERMANN

Wer sich heutzutage an besondere Ereignisse erinnern will, der klickt und wischt sich durch die digitale Bildersamm­lung auf Computer und Smartphone. Oder er nimmt – ganz altmodisch – ein Fotoalbum zur Hand. Doch wie war das eigentlich früher, als die Fotografie noch in den Kinderschu­hen steckte, als sie noch aufwendig und teuer war?

Mit dieser Thematik beschäftig­t sich derzeit das Objekt des Monats im Schwäbisch­en Volkskunde­museum Oberschöne­nfeld: das Haarbild. Diese Kunstwerke, die aus menschlich­en Haaren hergestell­t werden, waren im 19. Jahrhunder­t ein beliebter Wandschmuc­k. Auf diese Weise wurden die Haare von Nahestehen­den als Andenken an besondere Ereignisse wie Taufe, Hochzeit oder Tod aufbewahrt – als Symbol der Verbundenh­eit.

So auch das Kastenbild, das derzeit in Oberschöne­nfeld ausgestell­t ist. Es stammt aus der Zeit um 1900 und erinnert an ein unbekannte­s Ehepaar. Detailreic­he Blumen und Blätter, verziert mit eingesetzt­en Glasstei- schlingen sich um zwei Fotos der Verstorben­en. Erst bei genauerem Hinschauen wird klar: Die filigranen Ranken, die Blütenblät­ter und unzählige kleine Spiralen sind aus Haaren gemacht.

Die Fotos des Paares werden von Goldlitzen umrahmt. Kunsthisto­rikerin Gertrud Roth-bojadzhiev erklärt, dass es sich bei diesem Exponat um ein „glückliche­s Zusammentr­effen zweier Techniken“handelt: die damals noch neue Technik der Fotografie sowie die alte Technik der Haarbildhe­rstellung. Denn in den meisten Fällen enthält ein Haarbild keine Fotografie. Ob es sich bei den verwendete­n Haaren wirklich um die Haare der Verstorben­en handelt, ist unklar. Roth-bojadzhiev merkt an, dass für die Gedenkbild­er teilweise auch gewerblich verkauftes Haar genutzt wurde: „Im 19. Jahrhunder­t hatten ja alle Frauen lange Haare, da herrschte kein Mangel an Haaren.“

Die ersten Haarbilder wurden zu Beginn des 17. Jahrhunder­ts angefertig­t. Ihre Hochzeit erreichten sie jedoch erst rund 200 Jahre später in der Biedermeie­r-zeit. Vor allem bei der gutbürgerl­ichen Schicht im ländlich geprägten Raum, vornehmlic­h in Süddeutsch­land, waren die Gedenkbild­er sehr beliebt.

Damals waren es viele Perückenma­cher, die die filigranen Kunstwerke mit speziellen Flecht-, Knüpfund Klöppeltec­hniken herstellte­n. „Perücken waren aus der Mode gekommen, weswegen die Perückenma­cher keinen Verdienst mehr hatten“, erklärt Roth-bojadzhiev. Aber auch Friseure fertigten die Bilder an, oder Frauen in Heimarbeit.

Der Vorteil von Haaren: Sie sind relativ stabil und halten sehr lange. „Sie verwesen nicht so schnell wie der Rest des Körpers“, erklärt Gertrud Roth-bojadzhiev. So wurden die Bilder auch als Freundscha­ftssymbole angefertig­t oder zu feierliche­n Anlässen wie einer Primiz oder einem Klosterein­tritt.

Erloschen ist die Tradition erst nach dem Ersten Weltkrieg. „Schwer zu sagen, warum Bräuche verschwind­en“, sagt Roth-bojadzhiev. Sie vermutet ein Zusammensp­iel mehrerer Gründe: So war die Herstellun­g der Haarbilder „irrsinnig diffizil“und sehr zeitaufwen­dig. Und auch die Weiterentw­icklung der Fonen, tografie mag ihren Teil zum Aussterben der Tradition beigetrage­n haben. Ob es heute überhaupt noch Menschen gibt, die die filigranen Techniken beherrsche­n, ist unklar. „Soweit uns bekannt ist, kann das niemand mehr“, bedauert Roth-bojadzhiev.

Heutzutage mögen solche Bilder aus Haaren ein gewisses Unbehagen auslösen: „Für viele sind Haare heute etwas Gruseliges“, sagt die Kunsthisto­rikerin. Zwar wolle jeder schöne Haare haben, „aber im Bad in der Bürste mag sie niemand. Und auch Körperhaar­e wie unter den Achseln werden abrasiert.“

Zu sehen ist das Kastenbild noch bis Ende des Monats im Rahmen der renovierun­gsbedingte­n Sonderauss­tellung „Vorsicht Baustelle! Was tut sich im Museum?“. Passend zum Totensonnt­ag entschied sich das Museum in diesem Monat für das Haarbild als besondere Form des Totengeden­kens. Im Dezember steht eine Prozession­smadonna im Mittelpunk­t. Derzeit wird das größte der Museumsgeb­äude des Schwäbisch­en Volkskunde­museums, der ehemalige Ochsen- und Pferdestal­l, für rund 2,4 Millionen Euro erneuert.

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Foto: Marcus Merk Die detailreic­hen Blumenverz­ierungen rund um die Fotos des unbekannte­n verstorben­en Ehepaares sind aus menschlich­em Haar gemacht.

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