Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (17)
WNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House Gmbh. Übersetzung: Barbara Schaden
ährend der nächsten Tage jedenfalls spürte ich meine Wangen rot und heiß werden, wann immer ich die Geheimwache in einer Ecke beraten oder über eine Wiese schlendern sah.
Etwa zwei Tage nach der Abfuhr in Zimmer 20 ging ich die Treppe im Hauptgebäude hinab und bemerkte Moira B. direkt hinter mir. Wir fingen ein Gespräch an – über nichts Besonderes – und verließen gemeinsam das Haus. Es muss in der Mittagspause gewesen sein, denn als wir in den Hof hinaustraten, standen dort an die zwanzig Schüler in kleinen Gruppen beisammen und plauderten. Mein Blick ging sofort zur anderen Seite des Hofs hinüber, wo Ruth und drei Geheimwächterinnen nebeneinander standen und gespannt zum südlichen Spielplatz hinüberspähten. Ich versuchte zu erkennen, was sie so sehr interessierte, und merkte im selben Moment, dass auch Moira sie beobachtete. Mir fiel ein, dass sie noch einen Monat zuvor, bis zu ihrem Ausschluss, ebenfalls
der Geheimwache angehört hatte. Während der nächsten paar Sekunden empfand ich so etwas wie brennende Peinlichkeit, dass wir beide so beieinander standen, zusammengeschmiedet durch jüngst erlittene Demütigung, und gewissermaßen unserer Zurückweisung ins Gesicht blickten. Vielleicht empfand Moira ähnlich; jedenfalls war sie diejenige, die das Schweigen brach und sagte: „Total bescheuert, diese Geheimwache. Dass sie immer noch an diesen Unsinn glauben! Wie im Kindergarten.“
Noch heute wundere ich mich über die unbändige Gefühlsaufwallung, die mich bei Moiras Bemerkung überkam. Fuchsteufelswild fuhr ich sie an:
„Was verstehst du denn schon davon? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, du bist seit Urzeiten draußen! Wenn du wüsstest, was wir alles herausgefunden haben, würdest du nie und nimmer so was Idiotisches sagen!“
„Red keinen Mist“, sagte Moira, die sich noch nie leicht hatte einschüchtern lassen. „Das ist doch auch nur wieder eine von Ruths Erfindungen, weiter nichts.“
„Und wieso hab ich sie dann mit eigenen Ohren darüber reden hören, wie sie Miss Geraldine in den Milchwagen zerren und in den Wald verschleppen wollen? Wieso hab ich selber gehört, wie sie die Entführung planen, und das hat mit Ruth oder irgendwem überhaupt nichts zu tun?“
Moira sah mich verunsichert an. „Du hast es selber gehört? Wie? Wo?“
„Ich hab sie reden hören, so deutlich wie nur was, hab jedes einzelne Wort gehört, sie wussten nicht, dass ich in der Nähe war. Unten am Teich, sie ahnen nicht, dass ich sie belauscht habe. Das zeigt nur, wie wenig du weißt!“
Ich drängte mich an ihr vorbei, und während ich mir den Weg durch den von Schülern wimmelnden Innenhof bahnte, blickte ich zu Ruth und den anderen zurück, die immer noch zum südlichen Sportplatz hinüberschauten und von dem Vorfall zwischen Moira und mir nichts mitbekommen hatten. Und ich merkte, dass ich überhaupt nicht mehr böse auf Ruths Gefährtinnen war; nur unheimlich zornig auf Moira.
Wenn ich heute eine lange graue Straße entlangfahre und meine Gedanken kein besonderes Ziel haben, kommt es vor, dass ich das alles im Geist noch einmal hin und her wende. Warum verhielt ich mich damals so feindselig gegenüber Moira B., wo sie doch eine natürliche Verbündete gewesen wäre? Es mag daran liegen, dass Moira mir vorschlug, mit ihr zusammen eine Linie zu überschreiten, und dazu war ich noch nicht bereit. Ich spürte wohl, dass es jenseits der Linie härter und finsterer zuging, und das wollte ich nicht. Nicht für mich, nicht für uns alle. Dann verwerfe ich den Gedanken wieder und sage mir, dass es nur mit mir und Ruth zusammenhing und mit der Art von Loyalität, die sie damals von mir erwarten konnte. Und das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich während der ganzen Zeit, die ich sie in Dover betreute, den Vorfall zwischen Moira und mir nie zur Sprache brachte, obwohl ich es wirklich gern getan hätte, mehrmals sogar.
Diese Geschichten um Miss Geraldine bringen mich auf ein Ereignis rund drei Jahre später, als die Idee der Geheimwache längst gestorben war.
Wir waren in Zimmer 5 im Erdgeschoß, im rückwärtigen Teil des Hauses, und warteten auf den Unterrichtsbeginn. Zimmer 5 war das kleinste Klassenzimmer, und gerade an einem Wintermorgen wie diesem, wenn sich die mächtigen Heizkörper einschalteten und die Fenster beschlugen, wurde es darin wirklich stickig. Vielleicht übertreibe ich, aber meiner Erinnerung nach mussten sich die Schüler buchstäblich aufeinander setzen, damit eine ganze Klasse in den Raum passte. An dem Morgen saß Ruth auf einem Stuhl hinter einem Pult, während ich oben auf dem Pultdeckel hockte und zwei oder drei andere aus unserer Gruppe in der Nähe kauerten oder sich herüberlehnten. In dem Moment, glaube ich, als ich mich dünn machte, damit neben mir noch jemand Platz fand, fiel mir zum ersten Mal das Federmäppchen ins Auge.
Ich kann es heute noch sehen, als läge es vor mir. Es glänzte wie ein polierter Schuh; ein sattes Lederbraun, übersät von roten, umringelten Punkten. Der Reißverschluss entlang der oberen Kante hatte eine flauschige Quaste, mit der man ihn aufzog. Ich setzte mich fast darauf, als ich zur Seite rückte, und Ruth brachte das Federmäppchen rasch in Sicherheit. Doch ich hatte es gesehen, wie sie es beabsichtigt hatte, und sagte prompt:
„Ach! Wo hast du das her? Vom Basar?“
Es war schrecklich laut im Klassenzimmer, aber die Mädchen in unserer unmittelbaren Umgebung waren auf uns aufmerksam geworden, und bald bewunderten wir zu viert oder fünft das Federmäppchen.
Ruth schwieg eine Weile, während sie aufmerksam die Gesichter ringsum musterte, und endlich sagte sie gedehnt:
„Einigen wir uns darauf: Sagen wir, dass ich es vom Basar habe.“Dann betrachtete sie uns reihum mit einem wissenden Lächeln.
Das schien eine völlig belanglose Antwort zu sein, auf mich aber hatte sie dieselbe Wirkung, als wäre Ruth aufgesprungen und hätte mir eine Ohrfeige gegeben, und während der nächsten Minuten war mir abwechselnd heiß und kalt. Ich wusste genau, was sie mit ihrer Antwort und ihrem Lächeln bezweckte: uns zu verstehen zu geben, dass das Federmäppchen ein Geschenk von Miss Geraldine sei.
Dieser Eindruck war leider kein Missverständnis – er hatte sich schon länger angekündigt. Seit Wochen pflegte Ruth ein bestimmtes Lächeln aufzusetzen, einen gewissen Tonfall anzuschlagen, manchmal begleitet von einem an die Lippen gelegten Finger, einem ostentativen Flüstern mit erhobener Hand, wenn sie auf eine Gunstbezeugung Miss Geraldines ihr gegenüber anspielen wollte. »18. Fortsetzung folgt