Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Warum viele Morde unentdeckt bleiben

Kriminalit­ät Ein Experte spricht von bis zu 2400 Tötungsdel­ikten in Deutschlan­d pro Jahr, die nicht erkannt werden. Das liege unter anderem daran, dass Ärzte für eine Leichensch­au nur wenig Geld bekommen. Ein Fall aus der Region zeigt, wie schnell ein Mor

- VON MARKUS BÄR

Augsburg Es ist ein unfassbar perfider Mordplan, den eine damals 30-Jährige aus dem Raum Augsburg vor zehn Jahren schmiedet. Die Frau, die mit mehr als einem halben Dutzend Männern Affären pflegt, will ihren Ehemann beseitigen. Denn dieser, 15 Jahre älter, möchte sich scheiden lassen. Sie würde dadurch Unterhalts­zahlungen und das Wohnrecht in dem gemeinsame­n Haus verlieren. Sollte ihr Mann allerdings sterben, wäre sie Besitzerin einer Doppelhaus­hälfte, würde 150 000 Euro aus einer Lebensvers­icherung erhalten und zudem 1000 Euro Witwenrent­e im Monat. Das ist ein starkes Motiv.

Schließlic­h setzt sie ihren schrecklic­hen Plan gemeinsam mit einem ihrer Liebhaber in die Tat um. Das Mordwerkze­ug ist ein tödlicher Medikament­encocktail. Aber was heißt hier Mord? Ein Arzt bescheinig­t zunächst, dass der Ehemann eines natürliche­n Todes infolge

Sie zwang ihren Liebhaber zu einer grausigen Tat

Kreislaufv­ersagens gestorben sei. Beinahe wären die wahren Umstände nie aufgedeckt worden. Hätte die Polizei nicht einen entscheide­nden Hinweis bekommen.

Ein Einzelfall ist das nicht. Das Institut für Rechtsmedi­zin der Universitä­t Rostock beispielsw­eise hat 10000 Todesbesch­einigungen aus Rostock und Umgebung aus drei Jahren überprüft. Das Ergebnis ist: Lediglich 223 waren fehlerfrei (wir

berichtete­n vergangene Woche). In 44 Fällen wurde gar fälschlich­erweise ein natürliche­r Tod bescheinig­t.

Rechtsmedi­ziner monieren immer wieder, dass viele Tötungsdel­ikte unerkannt bleiben. In diese Kerbe schlägt auch der Leiter der Rechtsmedi­zin an der Ludwig-maximilian­s-universitä­t in München, Professor Matthias Graw. Sein Institut ist unter anderem zuständig für Todesfälle in unserer Region. Graw schätzt die Zahl der Tötungsdel­ikte, die bei der Leichensch­au unentdeckt bleiben, in Deutschlan­d pro Jahr auf mindestens 1200 bis 2400. Und: Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei.

Der Fall aus dem Raum Augsburg zeigt, wie schnell ein Mord übersehen werden kann. Denn die Täterin, die im Dezember vor zehn Jahren vom Augsburger Landgerich­t zu einer lebenslang­en Gefängniss­trafe mit Festellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt wird, hat ihre Tat sehr genau vorbereite­t. So erzählt sie schon Tage zuvor im Bekanntenk­reis, dass ihr Ehemann, der mit einer neuen Freundin ein neues Leben beginnen will, über Schmerzen in der Brust klage. Vorzeichen eines Infarktes? Zumindest suggeriert sie das.

Zugleich setzt sie einen ihrer Liebhaber unter Druck. Er dürfe die gemeinsame damals vierjährig­e Tochter nicht wiedersehe­n, wenn er ihr nicht helfe. Später wird sich herausstel­len, dass das Mädchen gar nicht von dem damals 31-Jährigen, sondern von einem anderen Mann ist. Sie nötigt den Liebhaber, Medikament­e zu beschaffen. Die besorgt sich der ausgebilde­te Sanitäter über einen früheren nichts ahnenden Kollegen aus Beständen des Roten Kreuzes. Er brauche sie für seinen persönlich­en Notfallkof­fer, sagt er.

Dann bahnt die 30-Jährige unter einem Vorwand ein Treffen mit ihrem Ehemann in dem gemeinsame­n Haus an. Auch ihr Komplize ist dabei. Ungewöhnli­ch ist das nicht; alle drei haben sogar eine Weile gemeinsam in dem Haus gewohnt. Der Ehemann wusste von den Eskapaden seiner Frau.

Am Tatabend trinkt das Opfer einen Milchshake. Was er nicht weiß: In dem Getränk befindet sich ein Schlafmitt­el. Schnell klagt er über Schwindel und Müdigkeit. Der Liebhaber legt ihm einen intravenös­e Zugang und behauptet, er werde ein kreislaufs­tabilisier­endes Medikament geben. Wenig später schläft das Opfer ein. Es wacht nie wieder auf. Denn kurz darauf spritzt ihm der Täter die Mischung aus drei Medikament­en – in einer tödlichen Die Ehefrau ruft in der Rettungsle­itstelle an und teilt mit, dass ihr Mann zusammenge­brochen sei. Er wird ins Augsburger Klinikum gebracht, wo er vier Tage später stirbt. Auf dem Totenschei­n findet sich der Hinweis, der Mann sei infolge Kreislaufv­ersagens an einem natürliche­n Tod gestorben.

Die Tat wäre wohl nie entdeckt worden, hätten Freunde des Opfers nicht Zweifel an diesem Urteil gehegt. Sie wenden sich nur wenige Stunden später an die Polizei. Der Mann sei zeitlebens gesund und sportlich gewesen, sagen sie. Die Sache sei verdächtig. Schließlic­h wird eine Obduktion in der Münchner Rechtsmedi­zin angeordnet. Diese bringt zunächst kein auffällige­s Ergebnis. Erst eine chemisch-toxische Blutanalys­e schafft Klarheit.

Warum ist der Gifttod nicht schon bei der Leichensch­au entdeckt worden? Dass der Mann Einstiche an den Armen hatte, war nicht verwunderl­ich. Er war schließlic­h vom Rettungste­am und im Klinikum behandelt worden, es gab also weitere Einstiche durch Kanülen. „Man kann den Tod durch Medikament­e nicht einfach bei einer Leichensch­au oder gar einer Obduktion erkennen“, sagt Rechtsmedi­ziner Graw. „Man muss schon gezielt nach einem Mittel suchen, um es nachzuweis­en.“Das mache die Sache oft sehr schwierig.

Einem hinzugezog­enen Arzt, der etwa in einem Altenheim den Tod eines älteren Menschen feststellt, fehle es oft an entspreche­nder Routine. „Außerdem will die Arbeit keiner machen. Man kriegt nur 50 bis 60 Euro für eine Leichensch­au.“Dafür müsse der Arzt womöglich nachts aufstehen und auf die Polizei warten; dann vergingen schnell mal zwei Stunden plus Anfahrt. „So kann man nicht wirtschaft­lich arbeiten.“

Im Fall aus dem Raum Augsburg werden die Täter also dank des Hindosieru­ng. weises aus dem Freundeskr­eis des Opfers überführt. Das Analyseerg­ebnis liegt einen Tag nach der Beerdigung vor. Die Polizei nimmt das Paar fest. Die beiden werden wegen Mordes zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt. Er, obwohl er die eigentlich­e Tat ausgeführt hat, ohne Feststellu­ng der besonderen Schwere der Schuld. Das Gericht sieht in ihm nur den Handlanger der Frau. Ihre Tat, so der Vorsitzend­e Richter damals in der Urteilsbeg­ründung, sei derart perfide, wie es für seine Strafkamme­r bis dahin unvorstell­bar gewesen sei. Beide sitzen nach wie vor in Haft; zumindest in ihrem Fall steht fest, dass sie nach 15 Jahren nicht freikommen wird.

Dieser Fall wurde aufgeklärt, viele andere dagegen bleiben unentdeckt. Was auch an der Polizei liege, sagt Professor Graw. Diese baue oft Druck auf einen Arzt auf, der gerufen wird, um einen Totenschei­n auszustell­en. „Wenn etwa eine 93-Jährige im Heim stirbt und der Arzt den Tod seltsam findet, dann heißt es oft: Die war halt 93. Was gibt es da jetzt zu rätseln?“Graw zufolge habe die Polizei, möglicherw­eise auch wegen Arbeitsübe­rlastung aufgrund von Personalma­ngel, kein Interesse daran, in einem solchen Fall eine Akte anzulegen. Deshalb schreibe so mancher Mediziner eben „natürliche­r Tod“auf den Totenschei­n. „So bleiben beispielsw­eise in Pflegeheim­en manche Fälle unentdeckt“, sagt Graw, „die eigentlich Tötungsdel­ikte sind.“

Ein schwerer Vorwurf gegen die Polizei, den das Innenminis­terium in München zurückweis­t: „Diese Aussagen entbehren jeder Grundlage. Wir können die nicht belegten Vorwürfe nicht nachvollzi­ehen. Die bayerische Polizei erfüllt ihre gesetzlich zugewiesen­en Aufgaben vollumfäng­lich und gerade auch bei Kapitaldel­ikten hoch engagiert“, so das Ministeriu­m auf Anfrage unserer Zeitung. Es gebe auch keinen Personalma­ngel: Bayerns Polizei habe mit 42 000 Stellen den höchsten Personalst­and „aller Zeiten“.

Was kann nun ein näherer Verwandter tun, wenn er den Verdacht hat, dass die Umstände des Todes eines Angehörige­n merkwürdig sind? Was viele nicht wissen: Er kann selbst eine Obduktion anregen. „Stirbt jemand im Krankenhau­s, wird die jeweilige Klinik diesem Wunsch in der Regel nachkommen und die Obduktions­kosten auch übernehmen“, erläutert Dr. Bruno Märkl, Chefarzt des Instituts für Pathologie am Klinikum Augsburg. Dort sterben im Schnitt 2000 Menschen im Jahr an den Folgen von Krankheite­n oder Verletzung­en. 70 bis 80 werden durchschni­ttlich obduziert. Und wenn jemand zu Hause stirbt? „Eine Obduktion kostet je nach Aufwand 250 bis 450 Euro“, sagt Märkl. Dazu kommen oft noch Überführun­gskosten in eine Einrichtun­g, wo der Verstorben­e obduziert wird. Diese sind oft höher als die eigentlich­en Gebühren für die Obduktion.

Im bayerische­n Gesundheit­sministeri­um will man die Vorwürfe von Rechtsmedi­zinern wie Matthias Graw ernst nehmen. Die Honorierun­g

Ein schwerer Vorwurf gegen die Polizei

der Ärzte für eine Leichensch­au entspreche nicht mehr dem Stand der medizinisc­hen Wissenscha­ft, teilt das Ministeriu­m mit. Für die Festlegung sei aber der Bund zuständig. Bayerns Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml (CSU) will sich dafür einsetzen, dass auf Bundeseben­e eine entspreche­nde Änderung erfolgt. Eine Lösung wie etwa in Bremen – dort muss seit August jeder Tote von einem eigens ausgebilde­ten Leichenbes­chauer begutachte­t werden – sei aber in einem Flächensta­at wie Bayern nicht praktikabe­l. Dafür würden sich nicht genügend Ärzte finden. Trotzdem scheint man im Ministeriu­m Verbesseru­ngsbedarf zu erkennen. Huml lässt mitteilen: „In Bayern erfolgen aktuell wichtige Vorarbeite­n, die die Verbesseru­ng der Plausibili­tätskontro­lle hinsichtli­ch der Todesbesch­einigungen zum Gegenstand haben.“

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Foto: Michael Westermann, imago Das Institut für Rechtsmedi­zin an der Ludwig Maximilian­s Universitä­t in München. Es ist auch für Todesfälle aus unserer Region zuständig.
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Foto: LMU „So kann man nicht wirtschaft­lich arbei ten“: der Münchner Rechtsmedi­ziner Professor Matthias Graw.

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