Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Sie lehrte die Schule, die Kinder zu achten
Porträt Wie die vor 100 Jahren geborene Pädagogin Ilse Lichtenstein-rother die Schule umkrempelte
Ihre Bücher lesen sich noch immer ungemein modern. „Kindheit erhält und behält ihren Sinn nur, wenn wir Erwachsene uns Erwachsenheit zumuten und wenn wir den Kindern ihre Kindlichkeit lassen“– das ist so ein typischer Satz von Ilse Lichtenstein-rother. Am 10. Dezember vor 100 Jahren wurde die Frau geboren, die mit ihrer Reformpädagogik Geschichte schrieb und an der neu gegründeten Universität Augsburg ab 1973 die Grundschulpädagogik als wissenschaftliches Fach aufbaute.
Wenn Schule und Lehrer seither einen völlig anderen Blick auf die Kinder werfen, ist dies auch ein Verdienst von Lichtenstein-rother. Darauf weist Prof. Edeltraud Röbe hin, 1973 die erste wissenschaftliche Mitarbeiterin der neuen Augsburger Lehrstuhlinhaberin. Röbe war damals eine junge Lehrerin an der Frauentorschule, ihre Klasse sollte die erste Praktikumsklasse Lichtenstein-rothers werden. Beeindruckt war Röbe von ihrem Buch „Schulanfang“: Die Schule dürfe kein Kind von vorneherein abstoßen und negativ abstempeln, vielmehr Wärme, Geborgenheit, Vertrautheit und Wertschätzung auf die Sechsjährigen ausstrahlen. „Ilse Lichtensteinrother hat die Schule als einen Ort begriffen, wo nicht allein Wissen vermittelt wird, sondern wo auch Persönlichkeiten gebildet werden. Neben dem Unterricht sollte die Schule auf das menschliche Zusammenleben achten, die Kinder in Arbeitsgemeinschaften selbstständig machen lassen und ihnen eine ethische Orientierung mitgeben“, erklärt Röbe.
Ilse Lichtenstein-rother, die in den frühen siebziger Jahren am reformorientierten Deutschen Bildungsplan mitschrieb, fragte, was dem Kind gemäß ist, also seine Unmittelbarkeit, sein Entdeckerdrang, auch seine Verletzlichkeit. Auf diesen Lebenszusammenhang der Kinder, so lehrte sie, muss die Schule ihr Wirken abstimmen.
Immer habe Lichtenstein-rother darauf geachtet, Praxis und Theorie eng zu verzahnen. Sie hatte selbst als Lehrerin und Schulleiterin gearbeitet. Die Lehrkräfte sollten zuerst bedenken, was sie tun und warum, und sollten sich auch über ungewollte Nebenwirkungen Rechenschaft ablegen. „Die Reform beginnt in den Köpfen“, sagt Röbe, die mit dem Erbe Lichtenstein-rothers ihr Fach an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg aufgebaut hat. Ein solches Vorgehen könne auch vor Holzwegen bewahren, nämlich die Kinder eindimensional für irgendwelche Zwecke tauglich machen zu wollen, sei es für die Wirtschaft oder die Digitalisierung. Bis 1986 lehrte Ilse Lichtenstein-rother an der Uni Augsburg. Am 6. Oktober 1991 starb sie in Stadtbergen. Die Evangelische Volksschule in Augsburg trägt ihren Namen.