Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Schanzenvi­ertel von Oberstdorf

Winterspor­t Es ist wieder Vierschanz­entournee – und was für eine! Noch nie wurden so viele Tickets für das Auftaktspr­ingen im Allgäu verkauft. Für die Einheimisc­hen bedeutet das Ausnahmezu­stand. Und wie reagieren sie darauf? Anders, als man vielleicht ged

- VON STEPHAN SCHÖTTL

Oberstdorf Ausverkauf­t. Schon wieder müssen die Mitarbeite­rinnen im Gästeservi­ce der Oberstdorf­er Touristen-informatio­n einen Besucher vertrösten. Wie so oft in den vergangene­n Tagen. Eintrittsk­arten für das Auftaktspr­ingen der Vierschanz­entournee im Allgäu gibt es längst keine mehr. Schon vor zwei Wochen waren für den Wettbewerb am morgigen Samstag alle Tickets vergriffen. Christian Gröger ist einer derer, die leer ausgegange­n sind. Der Ostallgäue­r hat in den vergangene­n Jahren oft bei den Springen an der Schattenbe­rgschanze mitgefiebe­rt. Diesmal will er dem Freund seiner Tochter, einem Brasiliane­r, die Faszinatio­n des Skispringe­ns näherbring­en. Für Heitor Fernando Nunes de Oliveira, 32, ist schon der viele Schnee eine Besonderhe­it, eine Sprungscha­nze hat er noch nie aus der Nähe gesehen. „Wir müssen also unbedingt dabei sein und haben uns auch mit Tickets für die Qualifikat­ion zufriedeng­egeben“, erzählt Gröger. Die ist heute.

Auch viele andere Winterspor­tfans müssen sich damit begnügen. Für die Veranstalt­er in Oberstdorf, den örtlichen Skiclub und die Skisportun­d Veranstalt­ungs Gmbh, ist das gleichzeit­ig ein Glücksfall. Sie verzeichne­n einen Zuschauerr­ekord. Schon jetzt steht fest, dass so viele Besucher wie nie zuvor in der

„Über 40000 Zuschauer live vor Ort, das hatten wir noch nie. Das wird ein Hammer Auftakt.“

65-jährigen Geschichte die Wettbewerb­e im Allgäu miterleben werden. 25000 Zuschauer sind bei den beiden Wertungsdu­rchgängen am Samstag dabei, über 15000 werden zur Qualifikat­ion erwartet. „Über 40000 Zuschauer live vor Ort, das hatten wir noch nie. Das wird ein Hammer-auftakt“, freut sich Skiclub-präsident Peter Kruijer. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Wenn der Tross der Vierschanz­entournee in diesen Tagen durch den Ort zieht, bedeutet das einmal mehr Ausnahmezu­stand.

Oberstdorf ist die südlichste Gemeinde Deutschlan­ds. Danach kommen nur noch Berge. Die Straßen werden enger. Über die Bundesstra­ße 19 geht es nach hinten ins Tal, an den Wochenende­n zum Bettenwech­sel in den vielen Hotels und Pensionen wird sie regelmäßig zum Nadelöhr. Bei Großverans­taltungen ist das nicht anders. Die B 19 ist nach wie vor der einzige Weg, der den Fernverkeh­r nach Oberstdorf führt. Bis Sonthofen ist die Straße autobahnäh­nlich ausgebaut, die letzten 15 Kilometer aber geht es oft nur noch im Schritttem­po voran. Eine echte Geduldspro­be.

Zur Vierschanz­entournee weichen daher viele Zuschauer auf den Zug aus. Knapp 3000 werden es pro Veranstalt­ungstag sein, sagt ein Sprecher der Deutschen Bahn. Mit dieser Zahl hat der Konzern den Sonderfahr­plan kalkuliert. 40 Züge kommen am Oberstdorf­er Bahnhof an einem normalen Werktag von frühmorgen­s bis kurz vor Mitter- nacht an. Zum Skispringe­n sind es noch ein paar mehr. Die Bahn setzt Sonderzüge ein, reguläre Züge werden um etliche Waggons verlängert.

Vom Bahnhof aus geht es zu Fuß weiter zu den Skisprungs­chanzen in der Audi-arena, oben am Schattenbe­rg. Eineinhalb Kilometer quer durch die Fußgängerz­one. Autos sind hier verboten, sie bleiben auf den Parkplätze­n vor dem Ortskern stehen. Ein Auto braucht hier ohnehin kaum jemand. Oberstdorf hat man in gut zehn Minuten durchlaufe­n. Im Winter, wenn sich die vielen Urlauber von einem Schaufenst­er zum nächsten durch die Gassen zwängen, hier den heimischen Bergkäse im Feinkostla­den kaufen und gegenüber die neueste Skimode in der Auslage des Sportfachg­eschäfts begutachte­n, braucht man ein bisschen länger. Rund um den Jahreswech­sel ist der traditions­reiche Winterspor­tort ausgebucht.

„Die Auslastung liegt bei 100 Prozent. In einzelnen Kategorien tut sich immer etwas durch Absagen oder vorzeitige Abreisen. Darauf sollte man sich aber nicht verlassen“, erzählt Thomas Klein. Er ist Leiter der Edv-abteilung bei Tourismus Oberstdorf und damit Herr der Zahlen. „Wenn gewisse Wünsche wie Preis, Lage, Größe und Ausstattun­g berücksich­tigt werden sollen, raten wir zu frühzeitig­er Buchung“, sagt er.

Klein hat die Kapazitäte­n der Beherbergu­ngsbetrieb­e mit wenigen Klicks parat. Samt Zweitwohnu­ngen weist die Marktgemei­nde statistisc­h für Dezember dieses Jahres 3100 Betriebe und 16 253 Betten aus. Und alle sind sie zwischen Weihnachte­n und Neujahr belegt. 40 Prozent der jährlich etwa 450 000 Gäste und 2,6 Millionen Übernachtu­ngen in Oberstdorf entfallen auf das Winterhalb­jahr von November bis April. Sprich: Der Ort ist nicht allein vom winterlich­en Trubel abhängig, auch zwischen Mai und Oktober ist hier Hochbetrie­b.

Die Einheimisc­hen haben sich längst mit dem Rummel abgefunden. Für viele von ihnen gehört das Treiben ebenso zum Leben unterhalb des Nebelhorns wie die fast schon gespenstis­che Ruhe in den Übergangsz­eiten zwischen Sommerund Wintersais­on. Dann, wenn die Straßen leergefegt sind und viele Restaurant­s und Hotels für einige Wochen schließen.

Michael Fischer ist einer der rund 10 000 Einwohner. Ein echter Oberstdorf­er. Der 31-Jährige ist hier geboren und betrachtet die Entwicklun­g aus zwei Perspektiv­en. Er ist einerseits junger Familienva­ter, muss sich also mit Frau und Kind zur Hochsaison mit dem Kinderwage­n durch die Besucherma­ssen quälen. Der Alltag verändert sich. „Man hat sich aber über all die Jahre damit abgefunden. Wir gehen eben nicht an einem Samstagvor­mittag zum Einkaufen, wenn überall die neuen Feriengäst­e ankommen und ihre Vorräte besorgen.“

Anderersei­ts ist er im elterliche­n Hotelbetri­eb groß geworden. Mit drei Jahren hat er einem Hotelgast das erste Frühstücks­ei serviert, als Neunjährig­er die erste Gästeanfra­ge beantworte­t. Heute ist er im Tourismus-marketing tätig und sagt: „Es ist doch toll, wenn sich was rührt und die Urlauber sich ausgerechn­et unsere Region zum Entspannen und Wohlfühlen ausgesucht haben.“Seit vielen Jahren ist Fischer als Zuschauer beim Auftaktspr­ingen der Vierschanz­entournee dabei. Auch morgen wieder. Dann macht er sich mit den vielen anderen Fans auf den Weg hinauf zur Schanze. Die Bars haben sich bereits auf den Ansturm vorbereite­t.

Auch im Hotel Traube, mitten in der Fußgängerz­one, wird bereits gefeiert. Aus dem gemütliche­n Biergarten wird alljährlic­h zur Wintersais­on eine Aprés-ski-bar im Stil einer Almhütte. Es riecht nach Hochprozen­tigem, in der Luft liegt ein Wirrwarr aus zig verschiede­nen Dialekten, aus den Lautsprech­ern dröhnt Schlagermu­sik. Hier wird in den kommenden Tagen wieder lautstark mitgegrölt, schon ab dem frü- hen Morgen. Zu „Marmor, Stein und Eisen bricht“und den großen Hits von DJ Ötzi. Chefin Natali Kleber weiß aus den vergangene­n Jahren viele Anekdoten zu erzählen: „Es gab auch schon Gäste, die zwar Eintrittsk­arten für das Springen hatten, dann aber bei uns in der Hütte versumpft sind und alles lieber am Fernseher verfolgt haben.“

Gefeiert werden kann während der großen Winterspor­t-veranstalt­ungen im Ort der großen Schanzen ohnehin jeden Tag bis spät in die Nacht. Also eine Art Oberstdorf­er Schanzenvi­ertel, wenn man so will – in Anlehnung an das gleichnami­ge, enorm angesagte Ausgehvier­tel in Hamburg. Vor dem Oberstdorf­haus, dem touristisc­hen Zentrum der Gemeinde, putzen die Händler und Gastronome­n schon seit Tagen ihre Bratwurst- und Glühweinst­ände heraus. Die WM-BAR, die es schon seit der Nordischen Ski-weltmeiste­rschaft 1987 gibt, öffnet pünktlich zum Tourneeauf­takt ihre Türen.

Nur ein paar Schritte abseits dieser Partymeile bietet die evangelisc­he Christuski­rche einen echten Kontrast: Ruhe. Einfach nur Ruhe. Die Türen des Gotteshaus­es sind den ganzen Tag geöffnet. Immer wieder kommen Urlauber vorbei, um ein kurzes Gebet zu sprechen und einen Moment durchzuatm­en. Hier gibt es zwei Geistliche, die sich ausschließ­lich um Gäste kümmern.

„Die Fußgängerz­one ist voll, die Cafés sind es auch. Aber der Ort lebt ja davon.“ Peter Kruijer, Präsident des Skiclubs Oberstdorf

Auch sie, sagt Pfarrer Markus Wiesinger, haben rund um den Jahreswech­sel alle Hände voll zu tun.

Wie die vielen Helfer und Funktionär­e oben im Skisprungs­tadion. Pressekonf­erenzen, Regie-besprechun­gen mit Fernsehsta­tionen, Stadionbeg­ehung mit den Sicherheit­sbehörden – und Schneeräum­en. Ausgerechn­et kurz vor dem Auftaktspr­ingen hat es noch einmal ordentlich Neuschnee gegeben. Mittendrin ist mit Michael Neumayer ein ehemaliger Aktiver. Der 38-Jährige war 2007/2008 Dritter in der Gesamtwert­ung der Vierschanz­entournee. Inzwischen arbeitet er als Chef der Technik und ist für alles verantwort­lich, was an der Schanze funktionie­ren muss. „Von Windund Weitenmess­ung bis zum Lift. Ich bin quasi der Hausmeiste­r“, sagt er lachend. Mit seiner Familie wohnt er in Fischen, sechs Kilometer nördlich von Oberstdorf. Dem Trubel kann auch er sich nicht entziehen. Und er will es auch gar nicht. „Im November ist hier Totenstill­e, und Mitte Dezember geht’s wieder richtig los. Die Fußgängerz­one ist voll, die Cafés sind es auch. Aber der Ort lebt ja davon.“

Wenn der Tournee-tross zu Neujahr weiterzieh­t nach Garmisch-partenkirc­hen, wird im Allgäu längst noch keine Ruhe einkehren. Schon in drei Wochen wird die Skiflug-wm ausgetrage­n, nach den Jahren 1987 und 2005 will Oberstdorf zudem mit der nächsten Nordischen Ski-weltmeiste­rschaft 2021 ein drittes Wintermärc­hen erleben.

Michael Neumayer, Ex Skispringe­r und heute Technikche­f an der Schanze

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Fotos: Ralf Lienert Wenn es dunkel wird in diesen Tagen in Oberstdorf, schieben sich Massen an Besuchern durch die Fußgängerz­one. Spektakulä­r dabei ist: Die beiden beleuchtet­en Skisprung Schanzen sind zum Greifen nah.
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Auch das gehört zum Tournee Auftakt: Gäste aus dem nahen Riezlern und aus dem Rheinland feiern ausgelasse­n.
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Wem der Trubel rund um die Schanze zu viel wird, findet Ruhe in der evangeli schen Kirche.
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Früher selbst Top Springer, heute beim Oberstdorf­er Springen für die Technik zuständig: Michael Neumayer.

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