Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der unterschät­zte Signore Gentiloni

Italien Der sozialdemo­kratische Ministerpr­äsident galt lange als Platzhalte­r für Ex-regierungs­chef Matteo Renzi. Doch vor den anstehende­n Neuwahlen ist er der beliebtest­e Politiker im Land

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Rom In einem Land, in dem vor allem laute Protagonis­ten das politische Tagesgesch­äft bestimmen, ist ein Mann der beliebtest­e Politiker, der durch Besonnenhe­it und Zurückhalt­ung besticht. Am Donnerstag hielt Ministerpr­äsident Paolo Gentiloni seine letzte Pressekonf­erenz des Jahres, die zugleich das Ende der laufenden Legislatur­periode markierte. Die Passage, mit der sich der 63-jährige Spross einer Adelsfamil­ie aus der Region Marken wohl am treffendst­en selbst charakteri­sierte, lautete: Das Verdienst dafür, dass sich Italien nach der schwersten Krise der Nachkriegs­zeit wieder aufgerappe­lt habe, liege bei den „italienisc­hen Familien, den Unternehme­n, denjenigen, die forschen und sich um andere kümmern“. Unter Gentiloni hat in Italien nun britisches Understate­ment Konjunktur. Tatsächlic­h trauen die politikver­drossenen Italiener keinem Politiker mehr zu als ihrem Regierungs­chef.

Das mag paradox wirken angesichts der Tatsache, dass Gentilonis Mitte-links-regierung ab sofort nur noch geschäftsf­ührend im Amt ist. Weil für die Verabschie­dung einiger Gesetzentw­ürfe wie einem neuen Staatsbürg­erschaftsr­echt keine Parlaments­mehrheit mehr in Aussicht war, wurde erwartet, dass Staatspräs­ident Mattarella die beiden Kammern des Parlaments auflöst und Neuwahlen für den 4. März in Aussicht stellt. Und so kam es gestern: Sergio Mattarella unterschri­eb ein entspreche­ndes Dekret, womit er das italienisc­he Parlament auflöst. „Ich habe mein erstes Ziel – ein geordnetes Ende der Legislatur – erreicht“, sagte Gentiloni. Seine Regierung beschloss dann noch gestern, dass die Neuwahlen am 4. März stattfinde­n werden. Als weitere Erfolge der Regierung nannte der Premiermin­ister unter anderem den wirtschaft­lichen Aufschwung, mehr Arbeitsplä­tze, die Reduzierun­g der Überfahrte­n von Flüchtling­en über das Mittelmeer sowie die Einführung der Patientenv­erfügung.

Beobachter rechnen angesichts des beginnende­n Wahlkampfe­s mit turbulente­n Monaten in Rom. Das liegt an der Aufsplitte­rung des früher zweipolige­n Parteiensy­stems auf nun drei hauptsächl­iche Protagonis­ten und einem neuen Wahlrecht, das keinen sicheren Sieger garantiert. Vor dem von Gentilonis Parteifreu­nd Matteo Renzi geführten Partito Democratic­o (PD) und einem von Silvio Berlusconi bestimmten Mitte-rechts-lager liegt die Protestbew­egung Movimento 5 Stelle des Komikers Beppe Grillo in den Umfragen mit rund 28 Prozent der Stimmen in Führung.

Gentiloni und seine Regierung sollen bis zu den Wahlen kommissari­sch im Amt bleiben. Sollte nach den Wahlen im März keine Regierungs­bildung gelingen, kündigte etwa Silvio Berlusconi an, er könne sich die Fortführun­g der Regierung Gentiloni bis zu einem notwendige­n zweiten Wahltermin gut vorstellen.

Das ist kurios. Schließlic­h sollte Gentiloni als treuer Gefolgsman­n Renzis nur wenige Monate im Amt bleiben und dessen Platz warmhalten. Nun könnte er zu einem der am längsten amtierende­n Regierungs­chefs in Italien werden.

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Foto: Andreas Solaro, afp Wie ein Mann, der Abschied nimmt, wirkte der italienisc­he Regierungs­chef Paolo Gentiloni bei seiner Jahresabsc­hluss Presse konferenz keinesfall­s.

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