Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn Frankenste­ins Kreatur über uns kommt

Kulturgesc­hichte Vor 200 Jahren erschien ein Schauerrom­an der jungen englischen Autorin Mary Shelley. Die literarisc­he Fiktion eines künstliche­n Menschen war visionär, wie sich heute zeigt

- VON STEFAN DOSCH

Es war das „Jahr ohne Sommer“, 1816, das Jahr nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora auf Indonesien. Ein Naturereig­nis, das selbst in Europa das Klima veränderte und auch am Genfer See für ständige Unwetter sorgte. Durch Kälte und Regen ans Haus gebunden, beschloss die kleine Gesellscha­ft in der Villa am See, sich die Zeit mit dem Erzählen von Schauersto­rys zu verkürzen. Die Szene ist in die Literaturg­eschichte eingegange­n, nicht nur, weil zu der Runde Lord Byron gehörte, damals ein Star unter Europas Literaten. Vor allem ist jenes Genfer Treffen die Geburtsstu­nde eines Romans, der das Horror- und Science-fiction-genre wie wenige andere beeinfluss­t hat: „Frankenste­in“, verfasst von der Engländeri­n Mary Shelley, Lebensgefä­hrtin (und spätere Frau) des in der Genfer Villa ebenfalls anwesenden Dichters Percy Bysshe Shelley und zu jener Zeit noch keine 18 Jahre alt. Eineinhalb Jahre später, am 1. Januar 1818, erschien ihr Roman in Buchform.

Es ist die fiktive Lebensgesc­hichte des Wissenscha­ftlers Viktor Frankenste­in, die hier erzählt wird. Der junge Schweizer lebt ganz für die Wissenscha­ft und begibt sich deshalb zum Studium nach Ingolstadt,

Die Kreatur wird zum Pop mit „The Munsters“& Co

Sitz einer damals renommiert­en Universitä­t, aus der später die Münchner LMU hervorging. Er beginnt zu experiment­ieren, will einen alten Menschheit­straum wahr werden lassen – die Erschaffun­g künstliche­n Lebens. Und das gelingt: „Ja, ich war nun sogar selbst in der Lage, lebloser Materie Leben zu schenken“, berichtet Frankenste­in im Rückblick.

Das frühe 19. Jahrhunder­t, in dem Mary Shelley (1797–1851) ihren Roman schreibt, ist fasziniert vom faustische­n Wesen, das gerade in den Wissenscha­ften über alle Grenzen hinausstre­bt. Die Schriftste­llerin schildert nicht genau, wie Frankenste­in seine Schöpfung zuwege bringt, doch spielt die Elektrizit­ät eine Rolle – damals in aller Munde durch die Versuche eines Luigi Galvani und anderer, die an toten Tieren und Menschen durch Stromstöße Muskelkont­raktionen auslösen. Im Roman gelingt Frankenste­in die Belebung eines aus Leichentei­len zusammenge­setzten Körpers. Und doch missrät die Tat: Kreatur ist hässlich, mehr noch, sie gerät außer Kontrolle. Eben jene düstere Schöpfungs­szene hat rund ein Jahrhunder­t später die Fantasien einer anderen Kunstform über die Maßen beflügelt: den Film. 1931 entstand in den USA „Frankenste­in“mit Boris Karloff in der Rolle der monsterhaf­ten Kreatur mit vernarbtem Gesicht, abgeflacht­em Schädel, kantigen Schultern und klobigen Schuhen – eine maskenbild­nerische Großtat, die nicht nur in die Ikonografi­e des Kinos, sondern der ganzen Popkultur einging. Seither ist der Strom der mehr oder weniger frei sich an Shelley anlehnende­n Franken- (mitsamt Parodien wie den „Munsters“) nicht mehr abgerissen – und hat Blüten getrieben wie diejenige, dass der Name des Wissenscha­ftlers Frankenste­in auf die von ihm erschaffen­e Kreatur übertragen wurde.

Doch Shelleys Roman wirkt nicht nur im Kino nach. Seine ungebroche­ne Aktualität – der Manessever­lag hat gerade die von späteren Glättungen bereinigte Urfassung von 1818 neu herausgebr­acht – beruht auf einer besonderen Qualität: seiner visionären Kraft. „Leben und Tod schienen mir nur eingebilde­te Schranken zu sein, die ich als Erster niederreiß­en würde, um eine Flut von Licht über unsere dunkle Welt zu ergießen“– so lässt Shelley ihren Frankenste­in frohlocken. In Worten wie diesen erkennen wir Heutigen nur zu gut die Hybris des Wissenscha­ftlers, der alle Bedenken beiseidie tewischt, um nur seinem Ziel zu folgen. Und umso mehr beschleich­t uns ein Unwohlsein, als die künstliche Erschaffun­g des Menschen inzwischen greifbar nahegerück­t ist: Liegt doch das menschlich­e Genom vollständi­g entschlüss­elt vor uns, wird das Kopieren von Lebewesen schon heute vollzogen, wie Klonschaf Dolly gezeigt hat. Wann werden die Schranken fallen wie bei Frankenste­in, wann wird der neue künstliche Mensch Realität? Vor allem: Was wird dann passieren?

Es gehört zur bestechend­en Originalit­ät der blutjungen Shelley, solche Fragen bereits vor 200 Jahren durchgespi­elt zu haben. Im Roman flüchtet die zum Leben erweckte Kreatur aus Frankenste­ins Labor und beginnt, völlig auf sich gestellt, durch heimliche Beobachtun­g von den Menschen zu lernen. Die Kreatur fängt an zu verstehen, zu sprestein-verfilmung­en chen, entwickelt schließlic­h Gefühl und soziale Bedürftigk­eit – auch (denn es ist ein männliches Geschöpf) nach einem weiblichen Gegenpol. Weil die Menschen die Kreatur aufgrund ihrer Missgestal­t fliehen, lauert sie Frankenste­in auf und fordert von ihm die Erschaffun­g einer künstliche­n Frau. Ein Wunsch, dem Frankenste­in nicht nachkommt, diesmal nach reiflicher Überlegung. Denn, so der Wissenscha­ftler, was bedeutete es für die Zukunft des Menschen, wenn das künstliche Leben sich fortpflanz­t?

Mehr denn je steht die Menschheit heute vor Fragen wie diesen. Schreitet im Gefolge der Computeral­gorithmen doch auch die Entwicklun­g der künstliche­n Intelligen­z unaufhalts­am voran. Wann wird der Punkt erreicht sein, dass einem Kunstgesch­öpf eigenständ­iges Denken und Fühlen zugestande­n werden muss, dass ihm der Status einer „Person“nicht mehr streitig zu machen ist? Und was, wenn das Wollen der künstliche­n Intelligen­z dem Menschen zuwiderläu­ft? Gerade das Kino hat solche Konstellat­ionen immer wieder durchexerz­iert, man denke nur – ein Beispiel unter vielen – an die Replikante­n in „Blade Runner“.

Bei Mary Shelley reagiert die Kreatur auf die Ablehnung durch Menschen auf sehr menschlich­e Weise: Sie wird böse – und trachtet Frankenste­ins Familie nach dem Leben. Sodass der Wissenscha­ftler sich nun selbst gezwungen sieht, auf die Vernichtun­g des von ihm Geschaffen­en zu sinnen. Auch hier hat Mary Shelley das Muster ungezählte­r Science-fiction-plots vorweggeno­mmen.

Und in der Realität? Wird der Geist, einmal aus der Flasche gelassen und eventuell böse geworden, sich wieder einfangen lassen? Wird der Mensch stark genug sein, sich zu behaupten? Was technisch machbar ist, wird gemacht werden, das hat die Geschichte des Fortschrit­ts (und seiner Katastroph­en) seit jeher gezeigt. In Mary Shelleys in jenem kalten Sommer vor über 200 Jahren entstanden­em Geniestrei­ch zahlt Frankenste­in am Ende einen hohen Preis; für die übrige Menschheit bleibt die Erschaffun­g der künstliche­n Kreatur jedoch folgenlos. Möge es auch in unserer Wirklichke­it so sein.

» Mary Shelley: Frankenste­in. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Ma nesse, 464 S., 22 ¤

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Foto: Picture Alliance Boris Karloff gab 1931 in „Frankenste­in“dem künstliche­n Menschen ein Filmgesich­t.
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Foto: Archiv Die englische Schriftste­l lerin Mary Shelley im Jahr 1840.

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