Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Als sich in Köln die Erde öffnete

Justiz Die Bilder vom Einsturz des Stadtarchi­vs gingen um die Welt. Fast neun Jahre ist das her. Die Trümmer töteten zwei Menschen und zerstörten Unmengen wertvoller Dokumente. Jetzt soll ein Strafproze­ss die Schuldfrag­e klären. Warum das Gericht nur weni

- VON MANFRED REINNARTH

Köln Der Tag, an dem das Stadtarchi­v einstürzte, wird für Claudia Tiggemann-klein immer mit sandigem Staub verbunden sein. So roch die Wolke, die dort stand, wo vorher das Archiv war. Mit dem Strafproze­ss, der heute beginnt, kommen bei Betroffene­n wie ihr jede Menge Erinnerung­en hoch. An jenen 3. März 2009, als die Pressespre­cherin gerade am Waidmarkt in ihrem Büro im Hinterhaus saß. Und am Eingang der Tod wartete.

„Der Hausmeiste­r ist unser Retter“, sagt Tiggemann-klein heute. „Er hatte Handwerker­n ein Seitentor geöffnet, als er einen Spalt in der Hauswand sah und ein rieselndes Geräusch in den Wänden hörte.“Es sei reines Bauchgefüh­l gewesen, dass er sofort an einen Einsturz dachte, da er solch ein Geräusch schon mal in einem Spielfilm über einen Gebäudeein­sturz gehört hatte.

So kam es, dass sich der Tod ohne Claudia Tiggemann-klein davonmacht­e.

Es war, das stand schnell fest, eine der größten Bau-tragödien der deutschen Nachkriegs­geschichte.

Das Gebäude fiel wie ein Kartenhaus zusammen

Dort, wo tief unter der Erde der Millionens­tadt gerade die U-bahn ausgebaut wurde, fiel das Historisch­e Stadtarchi­v, eines der bedeutends­ten Kommunalar­chive nördlich der Alpen, wie ein Kartenhaus zusammen. Zwei Anwohner starben, als das einstürzen­de Gebäude zwei Nachbarhäu­ser teilweise mit in die Tiefe riss. Hinzu kam, dass Unmengen an wertvollen Büchern, Schriften und Urkunden unter dem Schuttberg begraben wurden.

Fast neun Jahre hat es gedauert, bis die Untersuchu­ngen zur Unglücksur­sache abgeschlos­sen waren. Heute endlich beginnt vor der 10. Großen Strafkamme­r des Landgerich­ts Köln die juristisch­e Aufarbeitu­ng – unter hohem zeitlichen Druck. Die drei Berufsrich­ter unter Vorsitz von Michael Greve müssen bis zum 2. März 2019 ein Urteil sprechen. Denn dann verjähren die Taten, die den Angeklagte­n zur Last gelegt werden: fahrlässig­e Tötung und Baugefährd­ung.

Die 196 Seiten starke Anklagesch­rift beschreibt, wie zwei Arbeiter – ein Polier und ein Baggerführ­er – bereits im Jahr 2005 beim Bau einer Schlitzwan­d gepfuscht und danach ihren Fehler und dessen Folgen vertuscht haben sollen. Zudem sind Verantwort­liche der Baufirmen sowie der Kölner Verkehrs-betriebe angeklagt. Sie sollen die Auswirkung­en des Pfuschs zwar vor Augen gehabt haben, aber nicht auf Fehlersuch­e gegangen sein.

Mehr als 90 Beschuldig­te sind fünf Jahre nach dem Unglück benannt worden, um die Verjährung um fünf weitere Jahre hinauszöge­rn zu können. Sieben von ihnen wurden später angeklagt. Einer davon ist inzwischen gestorben. Ein anderer, der beim Aushub tätig war, ist so schwer krank, dass das Verfahren gegen ihn in der vergangene­n Woche abgetrennt wurde. Entspreche­nd hat das Gericht den Zeitplan auf 116 Verhandlun­gstage gekürzt.

Über allem stehen jetzt zwei Fragen: Wie konnte dieser Einsturz passieren? Und: Wer ist schuld daran? Nach Überzeugun­g der Staatsanwa­ltschaft soll sich das Ganze so zugetragen haben: Zwei Bauarbeite­r stießen beim Ausschacht­en des Tunnels auf ein Hindernis, das sie nicht beseitigen konnten. Anstatt dies der Bauleitung zu melden, setzten sie den Aushub einfach fort. Im Schatten des Hinderniss­es entstand eine „Erdplombe“, ein Loch in der unterirdis­chen Wand. Am Unglücksta­g gab diese Plombe laut Anklage plötzlich nach, woraufhin große Mengen Sand, Kies und Wasser in die Baugrube eindrangen. Dem Archiv wurde buchstäbli­ch der Boden entzogen, sodass es mitsamt der Nachbargeb­äude zusammenbr­ach.

Die Baufirmen führten dagegen in den vergangene­n Jahren wiederholt eine andere These ins Feld. Demnach könnte ein sogenannte­r hydraulisc­her Grundbruch das Unglück verursacht haben. Dabei wäre Wasser nicht durch ein Leck in der Lamelle, sondern unter der Schlitzwan­d hindurch in die Baugrube vor dem Archivgebä­ude vorgedrung­en – was auf Defizite bei der Bauplanung statt bei der Bauausführ­ung hindeuten würde.

Für Claudia Tiggemann-klein ging es in diesen dramatisch­en Sekunden nur um eines: lebend hier herauszuko­mmen. Bauarbeite­r, die damals bei Nachbarn Sturm klingelten, um diese zu warnen, fanden die Klingel des Archivs nicht, erzählt sie. So sei es umso mehr auf die Intuition des Hausmeiste­rs angekommen. „Ich weiß noch, dass er sagte: Die Frau Tiggemann nehmen wir auch noch mit. Und ich habe, obwohl das unvernünft­ig war, noch Jacke, Schlüssel und Rucksack gepackt.“Der Hausmeiste­r hielt sie schließlic­h davon ab, in den Tod zu rennen. „Beim Hinterausg­ang musste man hochklette­rn, und darum wollte ich vorne raus, aber er hat mich zurückgeru­fen.“

Als sie aufgeforde­rt wurde, die Feuerwehr zu rufen, dachte sie an ein Problem mit dem Löschtank im Keller, so wie etwa ein Jahr vor dem Einsturz. Doch auf die Frage: „Was soll ich melden?“kam die Antwort: „Haus stürzt ein.“

Ihre Geschichte geht noch weiter. „Als ich mit meinem Handy die 112 wählte, habe ich noch darüber nachgedach­t, ob man dafür eine Vorwahl braucht.“Dann brach das Gebäude in sich zusammen. „Ich korrigiert­e meine Aussage in ,Das Haus ist eingestürz­t‘, und der Disponent der Feuerwehr sagte mir: Das wissen wir schon.“Danach rief sie für ihre Chefin einen Rettungswa­gen. „Sie fragte dauernd: ,Was ist mit den Kollegen?‘ und brauchte nach meiner Einschätzu­ng Hilfe. Ich habe auch versucht, Fritz Schramma zu erreichen, weil ich mal für den OB gearbeitet habe. Ich wollte ihm melden, dass wir mal das größte Archiv nördlich der Alpen hatten und nun nur noch die weltbeste Feuerwehr. So habe ich das wahrgenomm­en.“

So präzise und nüchtern, wie sie das alles heute erzählt, war sie 2009 auch in den ersten Stunden nach dem Unglück. „Bis zum Abend habe ich funktionie­rt: Listen erstellt, wer lebend gesehen wurde – erst am Sammelpunk­t in einem Hotel, dann im Krisenstab in der Scheibenst­raße.“Danach begann die Verarbeitu­ng. Der Schulpsych­ologische Dienst und Psychologe­n der Feuerwehr halfen, ebenso ein Traumather­apeut. „Er hat uns vorgewarnt, dass wir alltäglich­e Dinge wie Zähneputze­n zeitweise vergessen könnten. Das erklärte, warum ich beim Frühstück unfähig war, Fleischwur­stscheiben mit dem Brötchen zusammenzu­bringen.“Eine Zeit lang hat Rettungsfo­lie sie beunruhigt – Decken, die die Kollegen umgelegt bekamen, weil sie bei dem kühlen Wetter ohne Jacke auf der Straße standen.

Viele von ihnen haben ein ganzes Arbeitsleb­en darauf verwendet, die dokumentar­ischen Schätze der etwa 2000 Jahre alten Stadt zu pflegen. Heute lautet die vernichten­de Erkenntnis aus dem Einsturz des Historisch­en Archivs: Nichts von dem, was in Köln seit dem Jahr 922 an Schriftstü­cken aufgehoben wurde, blieb unbeschade­t. „Was die mehr als 4000 Helfer in zweieinhal­b Jahren Arbeit aus Schutt und Grundwasse­r geklaubt haben, ist teils schwer beschädigt“, sagt Archivleit­erin Bettina Schmidt-czaia. „Alles ist mit alkalische­m Baustaub überzogen, der das Papier angreift.“

Vor ein paar Tagen zog sie eine Zwischenbi­lanz der bisherigen Aufarbeitu­ng. In mehr als 1,1 Millionen Päckchen seien die geborgenen Schriftstü­cke eingelager­t. Die Archivare sprechen von „Bergeeinhe­iten“. Fast neun Jahre nach dem Unglück sind erst 13 Prozent davon trocken gereinigt. Wenigstens können diese – mit wenigen Ausnahmen - im Original oder in digitaler Form wieder gelesen werden.

„Wenn wir strikt nach Archivrege­ln vorgegange­n wären und weiter nur in Beständen denken würden, hätten wir noch 40 Jahre auf eine Nutzung warten müssen“, sagt Schmidt-czaia. Das Restaurier­ungsund Digitalisi­erungszent­rum der Stadt macht die vorzeitige Nutzung möglich. Es ist mit Maschinen ausgestatt­et, die teils extra für den Kölner Sonderfall entwickelt wurden – etwa die Schnipselm­aschine, die selbst unterschie­dlich aufgeweich­te Fetzen vom selben Blatt zuordnen kann.

Vor allem profitiert das Restaurier­ungszentru­m von den rund 90 Mitarbeite­rn. „Am Tag des Einsturzes hatten wir 28 Mitarbeite­r, heute rund 140 in Köln. Zudem gibt es ein Restaurier­ungszentru­m in Sachsen sowie eine Gruppe, die im Landesarch­iv in Düsseldorf sichtet, was in den Kisten steckt, die jahrelang in Asylarchiv­en zwischenla­gerten“, sagt Schmidt-czaia. Nicht einmal 60 Prozent dessen, was das Archiv einmal besaß, ist identifizi­ert. „Wir wissen nur anhand der Regalkapaz­ität für die Unterbring­ung, dass fünf Prozent nicht geborgen wurden“, sagt die Archivleit­erin. „Wir wissen aber nicht, was fehlt. Wenn wir eine Kiste öffnen, ist das wie beim Auspacken eines Weihnachts­pakets.“

Die Restaurier­ung der Dokumente wird wohl noch Jahrzehnte dauern. Mittlerwei­le hat die Stadt den Schaden beziffert, der mit dem Einsturz entstanden ist: 1,2 Milliarden Euro. Wer dafür haften muss, wird irgendwann Thema eines Zivilproze­sses werden.

Dass in all den Jahren so viel über den materielle­n Schaden geredet

Ein Mann fragt: Wer denkt an meinen toten Stiefsohn?

worden sei und so wenig über die zwei Toten, schmerzt Frank Pagel. Das hat er gerade der erzählt. Der 49-Jährige hat damals seinen Stiefsohn Kevin, 17, verloren – fünf Jahre, nachdem seine Frau gestorben war. Ob er zum Prozess gehen wird? „Ich weiß nicht, ob ich die Kraft dafür habe. Ich habe keine großen Erwartunge­n.“

Claudia Tiggemann-klein will den Prozess in der Zeitung verfolgen. „Ich würde gern mal wissen: Warum ist das Haus eingestürz­t?“, sagt sie. Dort, wo mal ihr Arbeitspla­tz war, tut sich noch heute eine tiefe Grube auf. Unweit der Universitä­t läuft schon der Bau eines neuen Stadtarchi­vs. Einige ihrer Kollegen haben sich nach dem Unglück versetzen lassen, zwei sind immer noch stark belastet, darunter der Hausmeiste­r. Er zieht heute eine Beschäftig­ung im Freien vor. Tiggemann-klein sagt: „Er fühlt sich irgendwie schuldig, obwohl er das in keiner Weise ist.“

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Archivfoto: Oliver Berg, dpa Plötzlich rauschte das Kölner Stadtarchi­v in die Tiefe – und riss zwei benachbart­e Wohnhäuser mit. Zwei Anwohner starben. Unser Foto entstand einen Tag nach dem Unglück.
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Foto: Konstantin­os Belibasaki­s Die Einsturzst­elle am Waidmarkt besucht Claudia Tiggemann Klein nur ungern – ob wohl ihr derzeitige­s Büro nicht weit entfernt ist.

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