Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wenn die ganze Familie unter der Krankheit eines Kindes leidet
Gesundheit Im Klinikum wird Kindern mit seltenen Krankheiten geholfen. Oft leben aber auch deren Eltern und Geschwister im Ausnahmezustand. Ein neues Forschungsprojekt sucht nach Wegen, ihr Leben zu erleichtern
Als Lisa geboren wird, merken ihre Eltern bald: Mit ihr stimmt etwas nicht. Das kleine Mädchen hat Krampfanfälle und Schreiattacken. Es sieht schlecht. Ärzte finden nach vielen Untersuchungen die Ursache. Lisa leidet an einer seltene chronische Stoffwechselkrankheit: Mitochondriopathie. Eine Krankheit, die zu einer schweren Belastung werden kann, nicht nur für die kleine Patientin selbst, sondern auch für Lisas Eltern und Geschwister.
Rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden an seltenen schweren Krankheiten, die genetische Ursachen haben. Allein in der Kinderklinik des Augsburger Klinikums werden jährlich 50 bis 80 derartige Diagnosen gestellt. Dann beginnt eine umfangreiche medizinische Behandlung, wie Chefarzt Professor Michael Frühwald erläutert. Die kleinen Patienten müssen immer wieder stationär ins Krankenhaus zur Therapie. Wenn sie wieder nach Hause dürfen, müssen sie oft zu ambulanten Arztterminen. Meist werden viele verschiedene Spezialisten in die Behandlung eingebunden.
All das hat Folgen. Mit Medizinern als ständigen Begleitern leben nicht nur die betroffenen Kinder im Ausnahmezustand. Auch in Lisas Familie dreht sich alles nur noch um die jüngste Tochter. Etwa um die Frage, ob und wie lange sie ihre Erkrankung überleben wird. Oder darum, wie man ihr trotz allem ein bisschen Freude in den Alltag bringen kann.
„Eine seltene schwere chronische Krankheit wird zur Belastung für die ganze Familie“, sagt Frühwald.
Nicht nur die jungen Patienten schweben in der Gefahr, dass sie neben ihrer eigentlichen Krankheit Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen bekommen. Der Mediziner verweist auch auf Studien, wonach
rund ein Drittel der betroffenen Mütter aus Sorge um ihr krankes Kind Depressionen und Angststörungen entwickeln. Gesunde Geschwister leiden häufig mit und haben in der Folge mit Problemen in
der Schule zu kämpfen. Väter, die sich viel Zeit für ihr krankes Kind nehmen, bekommen nicht selten Schwierigkeiten im Job. Familien zerbrechen, es kommt zu Scheidungen.
Nun soll diesen Familien besser geholfen werden. Ein Problem sei bislang, dass zwar die kranken Kinder behandelt werden und auch einzelne Familienmitglieder bei Problemen jeweils Hilfe von Spezialisten bekommen können, die Betreuung aber nicht zusammengeführt werde, sagt Frühwald. „Diese Familien brauchen psychosoziale Unterstützung.“Genau an diesem Punkt setzt ein großes neues Forschungsvorhaben mit bundesweit zehn Standorten an. Auch die Kinderklinik des Klinikums ist in Zusammenarbeit mit der Psychiatrie des Krankenhauses Josefinum daran beteiligt. Bei dem Projekt „Carefam-net“geht darum, die psychische Gesundheit und Lebensqualität der gesamten Familie in dieser Extremsituation zu verbessern.
Frühwald zufolge werden zwei Gruppen gebildet. In der ersten Gruppe kommt die Familie innerhalb von sechs Monaten mehrmals kurz in die Klinik. Dort stellt Kinderund Jugendpsychiaterin Dr. Michele Noterdaeme vom Josefinum die Diagnose, wer welche Hilfe benötigt. Dann führen Spezialisten Gespräche mit Eltern, Kindern und der Familie. Die zweite Forschungsgruppe wird parallel nur über Internet betreut. Dort schreiben die Familienmitglieder regelmäßig darüber, wie es ihnen geht. Die Rückmeldung bekommen sie online von speziellen „Internettherapeuten“, die ihnen Antworten auf den Computer daheim oder auch aufs Smartphone senden.
„Beide Methoden sind bekannt und erfolgreich, aber für diese Zielgruppe noch nicht erprobt“, sagt Frühwald. Die Forscher sollen herausfinden, welche Methode in diesem Fall sinnvoll und wirtschaftlich ist. Das wird laut Frühwald rund bis 2021 dauern. Ist das Projekt erfolgreich, wollen beteiligte Krankenkassen am Ende diese Versorgungsform für Familien finanzieren.