Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

An gerechtere­n Preisen für Lebensmitt­el führt kein Weg vorbei Leitartike­l

Immer mehr Verbrauche­r wollen wissen, wo ihr Essen herkommt. Trotzdem sind Nahrungsmi­ttel weiter spottbilli­g. Das passt nicht zusammen

- VON SARAH SCHIERACK sarah.schierack@augsburger­allgemeine.de

Geht es ums Essen, wird es schnell komplizier­t. Denn noch nie war es so einfach, sich gut zu ernähren – und zugleich noch nie so schwer. Verbrauche­r haben heute eine größere Auswahl an frischen und nahrhaften Lebensmitt­eln als je zuvor. Die Supermarkt-regale sind immer gefüllt, selbst im Discounter finden Kunden mittlerwei­le Bio-waren.

Nirgendwo wird diese Essensviel­falt so zelebriert wie auf der Grünen Woche in Berlin. Aber wer die Messehalle­n mit ihren Schnittche­n, Häppchen und Röllchen hinter sich lässt, stößt auch dort auf die Schattense­ite der Ernährungs­industrie: Vor den Türen der weltweit wichtigste­n Landwirtsc­haftsmesse haben in diesem Jahr wieder Zehntausen­de gegen Massentier­haltung oder Kükenschre­ddern protestier­t. Gegen all das also, was Verbrauche­rn den Appetit verdirbt – und gute Ernährung letztlich doch so schwer macht.

Längst sind es nicht mehr nur wenige Aktivisten, die für Tierwohl und Pflanzensc­hutz eintreten. Immer mehr Menschen geht es beim Einkaufen um Herkunft und Herstellun­g der Lebensmitt­el. Für sie hat Essen auch etwas mit Moral zu tun. Sie fahnden im Supermarkt nach Eiern, die aus dem Umland kommen. Und sie hadern damit, zu einer Avocado zu greifen, die zwar ein Bio-etikett trägt, aber tausende Kilometer entfernt geerntet wurde.

Handel und Hersteller­n bleiben die Gewissensb­isse ihrer Kunden nicht verborgen. Als Reaktion kleben auf den Verpackung­en immer neue Siegel – so wie jenes Geflügella­bel, das die von den Einzelhänd­lern finanziert­e „Initiative Tierwohl“jetzt vorgestell­t hat. Die Etiketten sollen dem Verbrauche­r den Einkaufswe­g weisen – erreichen letztlich aber das Gegenteil: Je mehr Siegel es gibt, desto wertloser werden sie für den Kunden. Denn er kann kaum unterschei­den, was Marketing ist und was einen echten Mehrwert bietet.

Das staatliche Tierwohl-label, an dessen Umsetzung das Landwirtsc­haftsminis­terium schon seit geraumer Zeit arbeitet, wird daran wenig ändern. Anstatt einzelne Landwirte zu unterstütz­en, die ihren Tieren ein wenig Komfort über den gesetzlich­en Standard hinaus bieten, sollte die Politik daran arbeiten, diesen Standard flächendec­kend zu verbessern. Natürlich können die meisten Landwirte sich nicht von heute auf morgen umstellen. Dafür brauchen sie Geld, denn mehr Tierwohl ist teuer.

An dieser Stelle kommt wieder der Verbrauche­r ins Spiel. Wer sich mehr Tierschutz wünscht, muss sich damit arrangiere­n, auch mehr für Fleisch, Milch oder Eier auszugeben. Zu oft schlägt der Preis am Ende aber das gute Gewissen. In kaum einem anderen europäisch­en Land geben die Einwohner so wenig von ihrem Geld für Lebensmitt­el aus wie in Deutschlan­d. Sich über Mega-ställe aufzuregen und gleichzeit­ig zum Schnäppche­nschinken zu greifen, ist aber vor allem eines: scheinheil­ig.

Gerechtere Preise senden ein Signal aus: Essen ist wertvoll. Um sich das immer wieder bewusst zu machen, braucht es kein Schulfach Ernährung, wie Agrarminis­ter Christian Schmidt es vor einiger Zeit gefordert hat. Stattdesse­n braucht es Verbrauche­r, die sich mit dem beschäftig­en, was sie essen. Die sich bewusst machen, dass eine Packung Milch nicht durch Zauberhand im Supermarkt-regal landet. Die ihren Kindern oder Enkeln beim Einkaufen erklären, warum sie Fleisch aus der Region anstelle des Sonderange­bots kaufen. Und die sich für eine Mahlzeit Zeit nehmen. Denn wer beim Essen ständig auf das Handy schaut oder die Semmel im Auto runterwürg­t, der verlernt, was es heißt zu genießen. Und wer das nicht mehr kann, dem ist letztlich egal, was er isst.

Zu vielen ist der Preis wichtiger als das gute Gewissen

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