Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Schwacher Sieger

Parteitag SPD-CHEF Martin Schulz hatte nur noch diese eine Chance, seine letzte. Nach hartem Ringen setzt er sich knapp durch, seine Partei stimmt für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit der Union. Einfacher wird’s für ihn jetzt nicht

- VON BERNHARD JUNGINGER

Bonn Quälende Minuten lang mussten die Delegierte­n ihre Arme mit den roten Stimmkarte­n nach oben strecken. Die Leitung des Spdsonderp­arteitags will genau nachzählen, wer für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit den Unionspart­eien ist – und wer dagegen. Denn auf den ersten Blick ist die Sache alles andere als klar. Erst nach einigen Minuten verkündet Noch-justizmini­ster Heiko Maas: 362 Genossen befürworte­n Gespräche, 279 lehnen sie ab, einer enthält sich.

Die Entscheidu­ng fällt nach einem Tag des erbitterte­n Streits. Schon der morgendlic­he Weg ins Kongressze­ntrum gerät für die Delegierte­n zu einer Art moralische­m Spießruten­laufen. Groko-gegner aus ganz unterschie­dlichen Richtungen versuchen lautstark, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Naturschüt­zer und Greenpeace klagen, SPD und Union hätten in ihrem

Die Parteispit­ze nimmt die Zwerge von den Jusos ernst

Sondierung­skompromis­s die Klimaziele geschleift. Eine Gruppe von Flüchtling­en fordert uneingesch­ränkten Familienna­chzug. Busfahrer wollen bessere Sozialleis­tungen. Und der Partei-nachwuchs beschallt den Vorplatz mit dröhnender Anti-groko-rap-musik.

Viele Jusos haben rote Zwergenmüt­zen aufgesetzt, eine Retourkuts­che Richtung Csu-landesgrup­penchef Alexander Dobrindt, der den Kampf der Groko-skeptiker als „Zwergenauf­stand“verhöhnt hatte. Zur Not müssen es Nikolausmü­tzen tun für das Schauspiel, das wie ein Vorgeschma­ck wirkt auf die „Selbstverz­wergung“, vor der sich alle in der Partei so sehr fürchten. Nur dass sie sich nicht einig sind, ob die Schrumpfun­g eintritt, wenn die Partei in eine Große Koalition eintritt – oder wenn sie es nicht tut.

Doch die Parteispit­ze nimmt die „Zwerge“ernst, keiner im Vorstand mag sich noch am Samstag darauf verlassen, dass der Weg in die Koalitions­verhandlun­gen mit Angela Merkel und ihrer Union nicht doch von einer Parteitags­mehrheit blockiert wird. Zumal auch einige Riesen im Spd-gefüge klargemach­t haben, dass sie am Sondierung­spapier noch Nachbesser­ungsbedarf se- hen. Aus dem mächtigen Landesverb­and Nordrhein-westfalen, der allein 144 von knapp 600 Delegierte­n stellt, kommt die Forderung, in Koalitions­verhandlun­gen der Union weitere Zugeständn­isse abzutrotze­n. Und zwar ein Verbot der sachgrundl­osen Befristung von Arbeitsver­trägen, erste Schritte zur Abschaffun­g der „Zweiklasse­nmedizin“und großzügige­re Ausnahmere­gelungen zum Familienna­chzug von Flüchtling­en mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us.

Der Vorstoß aus der „Herzkammer der Sozialdemo­kratie“wird schließlic­h Teil des Leitantrag­s für die Koalitions­gespräche, der Zusatz soll eine weitere Brücke für die Groko-skeptiker bauen. Doch wie viele sie beschreite­n werden, ist bei Beginn der Debatte nicht erkennbar.

Zum Auftakt tritt Malu Dreyer auf die Bühne. Die beliebte rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin hat an diesem Morgen wohl kaum ohne Hintergeda­nken in den Kleidersch­rank gegriffen. Sie trägt den leuchtend roten Blazer über einer schwarzen Bluse. Noch vor Wochen zählte sie zu den Gegnern einer neuen Großen Koalition. Inzwischen hat sie ihre Meinung geändert.

„Schade, dass der Union der Mut zur Minderheit­sregierung fehlt“, sagt sie. Doch die SPD könne die Union nicht in eine Minderheit­sregierung zwingen. „Heute lautet die Frage: Verhandlun­gen über eine Große Koalition oder demnächst Neuwahlen“, sagt Dreyer. Ein Bündnis mit der Union wäre „immer ein Zweckbündn­is, aber Deutschlan­d braucht eine Regierung“. Wie solle die SPD bei Neuwahlen auch in einen Wahlkampf gehen, „mit Themen, die sie in der Regierung hätte umsetzen können“. Vom Parteitag müsse das Signal ausgehen, „dass wir die Erneuerung der SPD vorantreib­en“. Und die sei auch in einer Regierung möglich.

Und dann kommt Hauptredne­r Martin Schulz, auf den sich an diesem Nachmittag alle Augen richten. Er wirkt erschöpft, leidenscha­ftslos. Man sieht ihm die Anstrengun­gen der vergangene­n Wochen an. Doch auch wenn er sich mit ganzer Kraft aufbäumt gegen die drohende Groko-ablehnung, die ihn wohl auch das Amt als Parteichef kosten würde – der Funke springt nicht über. Er rechtferti­gt noch einmal seine Kehrtwende von der entschiede­nen Absage an ein schwarz-rotes Bündnis am Wahlabend hin zum leidenscha­ftlichen Werben für ein solches Bündnis. „Die Lage hat sich seit dem Scheitern von Jamaika verändert“, sagt Schulz.

Die SPD habe in den Sondierung­en eine Menge erreicht, könne vieles umsetzen, was im Wahlkampf versproche­n worden sei: einen öffentlich­en Arbeitsmar­kt für bis zu 150 000 Menschen etwa. Den schrittwei­sen Abbau des Solidaritä­tszuschlag­es „von unten her“, zwei Milliarden zusätzlich für sozialen Wohnungsba­u. Schulz’ Ausführung­en geraten zu einer Art Rechtferti­gungsrede für das Ergebnis der Sondierung­en – und er kündigt an: Auch in möglichen Koalitions­gesprächen werde die SPD weiter gegen befristete Arbeitsver­hältnisse ankämpfen. Es gebe im Sondierung­spapier zudem keine Obergrenze bei Flüchtling­en, es bleibe beim Grundrecht auf Asyl. Auch weitere Härtefallr­egelungen beim Familienna­chzug müsse die Union noch zugestehen. „Wir werden bis zum letzten Verhandlun­gstag für ein Ergebnis kämpfen, mit dem wir guten Gewissens vor unsere Mitglieder treten können“, versichert der frühere Buchhändle­r aus Würselen.

Wie ein Staranwalt baut Schulz sein Plädoyer auf: Da gebe es ja dann auch noch eine Klausel, die Arbeit der Regierung nach zwei Jahren zu bewerten. „Die Zusammenar­beit mit der Union ist nicht ideal gelaufen, das haben wir nicht vergessen. Vertragsbr­uch werden wir nicht mehr tolerieren.“Ist der freundlich­e Applaus ein Vorzeichen, dass die 597 Delegierte­n und 45 stimmberec­htigten Vorstandsm­itglieder ihrem Chef folgen werden?

Bevor es zur Entscheidu­ng kommt, wollen noch rund hundert Delegierte ihre Meinung sagen. Kaum dem Stimmbruch entwachsen­e Jusos machen fehlende Erfahrung mit Leidenscha­ft wett. Auch unbeholfen­e Anti-groko-plädoyers werden laut beklatscht. Auf der anderen Seite mahnen Genossen mit Regierungs­erfahrung wie Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz, Manuela Schwesig, Ministerpr­äsidentin von Mecklenbur­g-vorpommern, oder der Landesvate­r von Niedersach­sen, Stephan Weil, zur Verantwort­ung – und für den Schritt in die Große Koalition.

Gespannt erwartet wird der Auftritt von Juso-chef Kevin Kühnert, dem sprachmäch­tigen Kopf der Gegner einer Großen Koalition. Er krempelt lässig die Ärmel seines dunklen Hemdes hoch und stellt erst einmal klar, dass das Sondierung­spapier für seine Haltung gar nicht so entscheide­nd sei. „Unsere Leute haben gut verhandelt“, lobt Kühnert die Spitzen seiner Partei. Um sie gleich darauf massiv zu kritisiere­n. „Wir machen uns klein durch die Art, wie wir auftreten“, sagt er im Hinblick auf die Beteiligun­g der SPD an der bisherigen Großen Koalition unter Merkel.

Mit der Union seien die Gemeinsamk­eiten schlichtwe­g aufgebrauc­ht. Das Gerede vom Zwergenauf­stand beeindruck­e ihn nicht, er sei auch nur 1,70 Meter groß. Auch ein anderer Satz sorgt für Gelächter: „Wären wir eine Kneipe, könnten wir sagen, die Union schreibt seit Jahren bei uns an.“Die SPD müsse nun „einmal ein Zwerg sein, um in Zukunft einmal wieder Riese sein zu können. Stimmt mit Nein“. Sein Applaus ist lauter als der von Schulz. Bahnt sich tatsächlic­h die Sensation an? Folgt die Partei nicht ihrem Chef, sondern der 28-jährigen Nachwuchsh­offnung?

Es ist dann Fraktionsc­hefin Andrea Nahles, selbst einst aufsässige Juso-chefin, die zeigt, dass auch die

Schulz baut sein Plädoyer wie ein Staranwalt auf „Wenn wir in einer Kneipe wären, dann könnten wir sagen, die Union schreibt seit Jahren bei uns an. Die haben einen Zettel bei uns offen, der ist so lang.“Juso Chef Kevin Kühnert „Wer nicht auf dem Platz steht, kann keine Tore schießen.“Der niedersäch­sische Ministerpr­äsident Stephan Weil „Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.“SPD Fraktionsc­hefin Andrea Nahles „Man muss nicht um jeden Preis regieren. Das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen. Das ist auch richtig.“SPD Vorsitzend­er Martin Schulz „Leute, wir brauchen mehr Selbstbewu­sstsein.“Die rheinland pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer „Die SPD darf nie wieder zum Streichelz­oo für Platzhirsc­he werden.“Der Landeschef der nordrhein westfälisc­hen SPD, Michael Groschek

Groko-befürworte­r das Spiel mit den ganz großen Emotionen beherrsche­n. Nahles schreit mehr, als sie spricht, ihre Stimme überschläg­t sich fast, als sie vor den Folgen von Neuwahlen warnt. Empathisch, kämpferisc­h, überzeugen­d.

Wie die Wähler auf ein SPD-NEIN zum Regieren reagieren würden, ist für sie klar: „Die zeigen uns den Vogel. Das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal. Das Einzige, was ich euch verspreche­n kann, dass wir verhandeln werden, bis es quietscht. Wir werden weitere gute Sachen heraushole­n, und dafür lohnt es sich, Ja zu sagen.“Für ihre Brandrede bekommt Nahles den mit Abstand größten Applaus. Und der Antrag der Parteispit­ze eine Mehrheit. Die SPD kann Koalitions­gespräche mit CDU und CSU aufnehmen, bekommt aber den klaren Auftrag mit auf den Weg, noch einmal tüchtig nachzuverh­andeln.

Bis zu einer Regierungs­bildung ist es also noch weit. 440000 Spdmitglie­der haben die letzte Entscheidu­ng über die Bildung einer Groko. Als sich die Delegierte­n eilig auf den Weg zu ihren Fliegern und Zügen nach Hause machen, wissen sie: Der Streit in ihrer Partei ist noch lange nicht zu Ende.

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Foto: Lukas Schulze, Getty Images Dem SPD Vorsitzend­en Martin Schulz sind die Anstrengun­gen der letzten Wochen deutlich anzusehen. Auch für seine Rede auf dem Parteitag bekommt er nur müden Beifall.
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Foto: afp Kämpft mit großer Empathie für die Große Koalition – und reißt die Groko Befürwor ter aus ihrer Lethargie: SPD Fraktionsc­hefin Andrea Nahles.

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