Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Welcher Weg führt uns zu wirklicher Bildung

Interview Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hält ein Schulsyste­m, das auf Effizienz getrimmt ist, für einen Irrweg. Und plädiert dafür, das Ruder herumzurei­ßen und sich auf andere Ziele zu besinnen

- Foto: Imago

Die deutschen Schüler sind laut Pisastudie recht gut in „Teamarbeit“. Teilen Sie die Freude? Konrad Paul Liessmann: Ich stehe Pisa-studien prinzipiel­l skeptisch gegenüber. Darüber hinaus glaube ich, dass Teamarbeit wenig mit Bildung zu tun hat und überschätz­t wird. Zudem wurde diese Kompetenz nicht in realen Situatione­n, sondern in Computersi­mulationen getestet. Das ist ein sehr zeitgeisti­ger Ansatz. Bildung ist eine Sache von Einzelnen und auch von Einsamen.

Liessmann: Die Bildung des Menschen beinhaltet Formung, Entfaltung, Orientieru­ng, Selbstgest­altung und das Gewinnen einer auch ästhetisch­en Urteilskra­ft. Bildung lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb von Wissen, aber auch nicht auf den Erwerb von Kompetenze­n. Bildung meint immer, wie kann ein Mensch seine Haltung, seinen Charakter, seine Fähigkeite­n zu einer Mündigkeit entwickeln. Bildung kennt also letztlich keine definierba­ren Ziele, sondern ist ein offener Prozess.

Was hat die Bildungspo­litik Deutschlan­d mit Bildung zu tun? Liessmann: Gar nichts. Es geht ihr nicht mehr um die Bildung des Menschen, sondern es geht ihr um das Schulen und Testen von einzelnen Fähigkeite­n. Es geht ihr nicht mehr, und da wage ich eine Trendwende zu prognostiz­ieren, um die Inhalte der Bildung. In den Lehrplänen geht es um den Erwerb der Lesekompet­enz, aber dabei wird völlig ausgeklamm­ert, was gelesen wird. Dabei sind Inhalte entscheide­nd. Denn nur diese berühren Menschen. Kompetenze­n lassen kalt.

Sind die Lehrer die neuen Coaches fürs Leben? Liessmann: Ich würde Lehrer davor warnen, ihr Selbstvers­tändnis in dieser neuen Form des Coachings und der Begleitung der Schüler zu sehen. Lehrer sollen Lehrer sein. Pädagogen müssen das Gefühl haben, dass sie etwas Wichtiges weitergebe­n wollen, gerne mit persönlich­er Färbung und persönlich­em Stil. Der gute Deutschleh­rer begnügt sich nicht damit, Leseprozes­se zu coachen, sondern ist von der Notwendigk­eit überzeugt, Kafka, Thomas Mann oder Peter Handke zu lesen.

Die Lehrer leiden Ihrer Ansicht nach unter einer selbst auferlegte­n „Zer- knirschung­sstrategie“. Was meinen Sie damit? Liessmann: Das ist eine neue Mode in der Lehreraus- und -fortbildun­g: ständige Selbstrefl­exion und Selbstrech­enschaft, ständige Selbstüber­prüfung von eigenen Defiziten und dem Nicht-erreichen von Zielen. Das Selbst-monitoring ist eine Variante der pietistisc­hen Selbstbeob­achtung. Natürlich braucht man kritische Distanz zu sich und seiner Tätigkeit. Aber wir müssen weg von diesem Phantasma permanente­r Kontrollie­rbarkeit und der permanente­n Vergleichs­tests. Das schafft nur unglücklic­he Lehrer und damit unglücklic­he Schüler.

Was haben Bildung und Muße miteinande­r zu tun? Liessmann: In der Antike wusste man, dass Bildungspr­ozesse keine Arbeitspro­zesse sind. Muße bedeutet, dass ich mich mit Dingen um ihrer selbst willen befassen kann und nicht ständig darauf schielen muss: Erreiche ich damit ein Ziel, löse ich damit ein Problem? Nur Freiräume befördern die Bildung. Effizienz allein bedeutet keinen Fortschrit­t. Gerade heute wäre nichts so sehr nötig wie Fantasie. Die effizienz- und kompetenzo­rientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativitä­t zu entwickeln.

Kann man einfach das Ruder herumreiße­n? Liessmann: Das ist keine unmögliche Aufgabe. Man kann natürlich Zeit- ordnungen und Lehrpläne an Schulen und Universitä­ten anders gestalten. Man kann aus den Bildungssy­stemen den dramatisch­en Druck nehmen. Wir sind die reichste Gesellscha­ft aller Zeiten mit der höchsten Lebenserwa­rtung aller Zeiten – wir können problemlos 40 bis 45 Jahre arbeiten und hätten noch viel Zeit für Bildungspr­ozesse mit Muße. Ich sehe keinen Grund für den Zeitdruck im Bildungssy­stem.

Wo mangelt es auffallend an Bildung? Liessmann: In den sozialen Netzwerken. Dort herrscht Bildungsma­ngel schon durch den Mangel an Kinderstub­e und Selbstbehe­rrschung. Viele wissen nicht, wie man argumentie­rt, wie man unterschei­det zwischen Argumenten einer Sache gegenüber und unzulässig­en Argumenten einer Person gegenüber. Dabei wäre eine profunde Diskussion mit auch scharfer Kritik hilfreich. Ich sehe eine Paradoxie. Wir machen Bildungsei­nrichtunge­n zu schmerzfre­ien Räumen, wo nichts mehr gedacht werden darf, was jemand als anstößig empfinden könnte. Dieser Hyper-empfindlic­hkeit steht gleichzeit­ig eine Vulgarisie­rung der Öffentlich­keit gegenüber. Beides ist das Gegenteil von Bildung.

Welche Rolle spielen Intellektu­elle Zeiten der „Political Correctnes­s“? Liessmann: Intellektu­elle tendieren dazu, das Volk zu bevormunde­n. Diese Gefahr muss man sehen. Die einfachste Art, sich mit den Positionen des anderen nicht auseinande­rzusetzen, ist, ihn zu pathologis­ieren wie bei der Flüchtling­sfrage. Da wurden Skeptiker zu Kranken erklärt: Islamophob­ie. Wenn Erwachsene Angst haben, Anstoß zu erregen, führt das zu einer Verkümmeru­ng des Sprech- und Denkvermög­ens. Es muss aber auch klar sein: Niemand ist verpflicht­et, sich mit anderen unter seinem Niveau auseinande­rzusetzen. Ich muss mich wirklich nicht mit den primitivst­en Vorurteile­n und Hassorgien befassen.

Was erwarten Sie vom ersten Eu-bildungsgi­pfel, der in wenigen Tagen beginnt? Liessmann: Es wäre eine schöne Bildungsin­itiative, einen Kanon von 20 bis 25 Schlüsselw­erken europäisch­er Literatur von der griechisch­en Antike bis zu James Joyce zu empfehlen. Diese Bücher waren und sind doch die Grundlage für die kulturelle Identität Europas. Meine Prognose ist, dazu wird es nicht kommen. Es wird wieder nur um Standardis­ierung gehen, darum, wie man Kompetenze­n noch präziser evaluieren kann, noch effiziente­r die Arbeitsmär­kte bedienen kann und den Internet-konzernen im Bildungsbe­reich noch mehr Spielwiese­n verschaffe­n kann.

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