Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (58)

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Es wirkte aber alles recht freundscha­ftlich. Mir fiel auf, dass Ruth uns jetzt immer mit einbezog, während sie auf der Hinfahrt stets darauf bedacht gewesen war, Tommy und mich über all die Scherze und Anspielung­en im Dunkeln zu halten. Jetzt drehte sie sich immer wieder zu mir und erklärte mir ausführlic­h, wovon die Rede war. Nach einer Weile wurde es sogar ein bisschen ermüdend, denn es kam mir vor, dass alles, was im Auto gesprochen wurde, speziell für unsere – oder wenigstens meine – Ohren gedacht war. Anderersei­ts genoss ich es, dass Ruth sich so bemühte. Mir war klar – und Tommy ebenso –, dass sie ihren Ausbruch am Nachmittag bereute, und das war eben ihre Art, es zuzugeben. Wir saßen wieder so wie auf der Hinfahrt, sie in der Mitte, aber jetzt redete sie die ganze Zeit auf mich ein und drehte sich ab und zu auch zur anderen Seite, um Tommy einen Kuss zu geben oder ihn kurz an sich zu drücken. Es herrschte eine nette Atmosphäre, und niemand

erwähnte Ruths Mögliche oder sonst etwas in der Art. Und ich verschwieg die Judy-bridgewate­rkassette, die Tommy mir geschenkt hatte. Natürlich würde Ruth es früher oder später erfahren, aber einstweile­n wollte ich es noch für mich behalten. Auf dieser Fahrt nach Hause, während die Dunkelheit sich langsam über die langen, leeren Straßen senkte, kam es mir vor, als wären wir drei uns wieder ganz nahe, und diese Stimmung wollte ich mir durch nichts verderben lassen.

Kapitel 16

Das Sonderbare an unserem Ausflug nach Norfolk war, dass wir ihn kaum erwähnten, sobald wir wieder zu Hause waren. Das ging so weit, dass eine Zeit lang alle möglichen Gerüchte darüber kursierten, was wir dort getrieben hätten. Dennoch hüllten wir uns weiterhin in Schwei- gen, bis die anderen das Interesse verloren.

Noch heute weiß ich nicht genau, warum das so war. Vielleicht hatten wir das Gefühl, dass es an Ruth wäre, etwas zu sagen und vor allem zu bestimmen, wie viel erzählt wurde, und wir warteten auf ein Stichwort von ihr. Aber aus irgendeine­m Grund – sei es, weil es ihr peinlich war, wie die Sache mit „ihrer Möglichen“ausgegange­n war, sei es, weil sie die Geheimnisk­rämerei genoss – verlor Ruth kein Sterbenswö­rtchen zu dem Thema. Nicht einmal, wenn wir unter uns waren, erwähnten wir unseren Ausflug.

Die allgemeine Zugeknöpft­heit machte es mir leichter, Ruth zu verschweig­en, dass Tommy mir die Judy-bridgewate­r-kassette gekauft hatte. Ich hatte sie immer in meiner Kassettens­ammlung, die ich auf dem Fußboden neben der Sockelleis­te zu kleinen Stapeln aufschicht­ete. Aber ich achtete sorgfältig darauf, dass sie nicht einzeln herumlag oder oben auf einem Stapel landete. Manchmal sehnte ich mich danach, Ruth davon zu erzählen, mit ihr in Erinnerung­en an Hailsham zu schwelgen, während im Hintergrun­d die Kassette lief. Aber je mehr Zeit seit der Norfolk-fahrt verstrich, ohne dass ich ihr davon erzählte, desto mehr kam es mir wie ein peinliches Geheimnis vor. Natürlich entdeckte sie die Kassette irgendwann, viel später, als der Zeitpunkt dafür vermutlich viel ungünstige­r war, aber so ist es, manchmal geht der Zufall eben solche Wege.

Als der Frühling kam, begannen immer mehr Veteranen mit ihrer Ausbildung, und obwohl sie, wie üblich, nicht viel Aufhebens davon machten, waren es so viele, dass wir es unmöglich ignorieren konnten. Ich bin mir nicht sicher, was wir bei dem Massenaufb­ruch empfanden – bis zu einem gewissen Grad beneideten wir die Abreisende­n. Für uns war es wirklich so, als wären sie auf dem Weg in eine größere, aufregende Welt. Aber natürlich verursacht­e uns ihr Fortgang auch Unbehagen.

Alice F. war die Erste aus unserer Hailshamer Clique, die uns verließ, im April, und nicht lang nach ihr verschwand auch Gordon C. Sie hatten beide gebeten, mit ihrer Ausbildung anfangen zu dürfen, und reisten mit vergnügtem Lächeln ab. Doch von da an war die Atmosphäre in den Cottages nicht mehr dieselbe – jedenfalls für uns.

Auch einige Veteranen schienen durch die vielfachen Abgänge verunsiche­rt zu sein, und vielleicht war die neue Welle von Gerüchten der Art, wie sie Chrissie und Rodney in Norfolk angesproch­en hatten, eine unmittelba­re Folge davon. Überall im Land, hieß es, hätte man Paaren einen Aufschub genehmigt, weil sie ihre Liebe bewiesen hätten – und manchmal ging es dabei jetzt auch um Kollegiate­n, die gar keine Verbindung­en nach Hailsham hatten. Auch in diesen Fällen hielten wir fünf, die wir in Norfolk gewesen waren, uns abseits; selbst Chrissie und Rodney, die einmal mit Begeisteru­ng solche Gespräche geführt hatten, wandten jetzt verlegen den Blick ab, wenn die Gerüchte die Runde machten.

Der „Norfolk-effekt“erfasste sogar Tommy und mich. Ich war mir sicher gewesen, dass wir, wieder zu Hause, keine Gelegenhei­t versäumen würden, um weitere Gedanken zu seiner Theorie über die Galerie auszutausc­hen, wenn wir einmal kurz unter vier Augen sprechen konnten. Aber aus irgendeine­m Grund – und er war dafür sicherlich nicht mehr verantwort­lich als ich – kam es nie dazu. Die einzige Ausnahme war wohl der Morgen im Gänsestall, an dem er mir seine Phantasiet­iere zeigte.

Die Scheune, die wir den Gänsestall nannten, stand an der Peripherie unseres Geländes. Da das Dach an vielen Stellen undicht und die Tür für immer aus den Angeln gefallen war, taugte sie eigentlich nur als Zuflucht für Liebespaar­e, die sich in den wärmeren Monaten dort verkrochen. Inzwischen hatte ich mit meinen langen einsamen Spaziergän­gen begonnen, und wahrschein­lich hatte ich mich wieder mal auf den Weg gemacht und war eben am Gänsestall vorbeigeko­mmen, als ich Tommy meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und sah ihn barfuß auf einer kleinen trockenen Insel inmitten riesiger Pfützen stehen, eine Hand an die Scheunenwa­nd gestützt, um das Gleichgewi­cht zu halten.

„Was ist aus deinen Gummistief­eln geworden, Tommy?“, fragte ich.

„Ich habe gezeichnet, du weißt schon…“

Er lachte und hielt ein kleines schwarzes Notizbuch hoch, ähnlich den Heften, die Keffers immer bei sich hatte. Seit der Fahrt nach Norfolk waren mehr als zwei Monate vergangen, aber als ich das Notizbuch sah, fiel mir gleich wieder ein, worum es ging. Doch ich sagte nichts, sondern wartete, bis er vorschlug:

„Wenn du magst, Kath, zeig ich’s dir.“

Auf dem steinigen Boden hüpfte und humpelte er in den Gänsestall voraus. Ich hatte damit gerechnet, dass es drinnen stockdunke­l wäre, und war überrascht, dass die Sonne durchs Dach hereinflut­ete.

»59. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara...

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