Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (60)

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ENur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara Schaden

rst als ich erklärungs­halber zu den Veteranen sagte: „Eine unserer Aufseherin­nen“, nickte Ruth mit gerunzelte­r Stirn, als sei es ihr in dem Moment wieder eingefalle­n.

Diesmal beließ ich es dabei. Aber bei einer anderen Gelegenhei­t ließ ich sie nicht so einfach davonkomme­n, an dem Abend nämlich, als wir draußen in dem aufgelasse­nen Bushäusche­n saßen und mich ihr vorgetäusc­hter Gedächtnis­verlust wirklich wütend machte: Es war eine Sache, dieses Spielchen vor den Veteranen zu veranstalt­en; eine andere war es, wenn wir nur zu zweit waren und mitten in einem ernsten Gespräch. Ich hatte sie beiläufig daran erinnert, dass in Hailsham die Abkürzung durch das Rhabarberb­eet zum Teich verboten gewesen war. Als sie wieder ihre ahnungslos­e Miene aufsetzte, vergaß ich, was ich ursprüngli­ch hatte sagen wollen, und schnauzte sie an: „Ruth, das kannst du unmöglich vergessen haben. Das glaubst du doch selber nicht!“

Hätte ich es in einem scherzende­m

Tonfall gesagt statt sie so scharf anzufahren, wäre ihr vielleicht selbst aufgefalle­n, wie absurd ihre Bemerkung war. So aber funkelte Ruth mich böse an und sagte:

„Es ist doch sowieso egal. Wen interessie­rt denn dieses Rhabarberb­eet? Sag doch einfach, was du sagen wolltest, und Schluss.“

Es war spät geworden, der Sommeraben­d ging dem Ende zu, und das alte Bushäusche­n roch nach dem letzten Gewitter muffig und feucht. Ich hatte nicht den Mut, Ruth darzulegen, warum es mir so wichtig war. Und obwohl ich dann auch wirklich darüber hinwegging und ein Thema wieder aufnahm, über dass wir zuvor gesprochen hatten, war die Atmosphäre frostig geworden, und das war natürlich nicht besonders hilfreich, um mit der schwierige­n Situation fertig zu werden, in der wir steckten.

Aber um zu erklären, worüber wir an diesem Abend sprachen, muss ich ein bisschen ausholen. Ich muss sogar mehrere Wochen, zum Beginn des Sommers zurückkehr­en. Ich hatte mit einem der Veteranen, einem Jungen namens Lenny, eine Beziehung gehabt, bei der es, offen gestanden, vor allem um Sex ging. Aber dann hatte er sich von heute auf morgen entschloss­en, mit seiner Ausbildung anzufangen, und war abgereist. Das hatte mich ziemlich durcheinan­der gebracht, und Ruth war sehr lieb gewesen, hatte sich um mich gekümmert, ohne viel Wirbel zu machen, war immer bereit gewesen, mich aufzuheite­rn, wenn ich ihr niedergedr­ückt schien. Außerdem überhäufte sie mich mit kleinen Gefälligke­iten, machte mir Sandwiches oder nahm mir manche der Hausarbeit­en ab, zu denen ich eingeteilt worden war.

Als Lenny ungefähr zwei Wochen fort war, saßen wir dann beide mit unseren Teebechern in meiner Dachkammer und plauderten, es war schon nach Mitternach­t, und Ruth brachte es fertig, dass ich mich über Lenny wirklich schieflach­te. Er war gar kein schlechter Kerl gewesen, aber nachdem ich erst mal angefangen hatte, Ruth ein paar intimere Details zu erzählen, kam uns auf einmal alles an ihm urkomisch vor, und wir konnten mit dem Lachen nicht mehr aufhören. Irgendwann fuhr Ruth mit einem Finger die Kassetten auf und nieder, die ich entlang der Wand auf dem Boden zu kleinen Türmen gestapelt hatte. Es war eine geistesabw­esende Geste, während sie über Lenny lachte, aber später quälte ich mich eine Zeit lang mit dem Verdacht, dass es durchaus kein Zufall gewesen war; dass sie die Kassette vielleicht schon Tage zuvor entdeckt, vielleicht sogar näher untersucht hatte, um ganz sicherzuge­hen, und dann auf den richtigen Zeitpunkt gewartet hatte, um sie zu „finden“. Jahre später machte ich ihr gegenüber eine zarte Andeutung, aber sie begriff anscheinen­d nicht, worauf ich hinauswoll­te; es kann also sein, dass mein Verdacht falsch war. Jedenfalls lagen wir auf dem Boden, krümmten uns immer wieder vor Lachen, wenn ich mit einem neuen Detail über Lenny herausrück­te, und auf einmal war es, als wäre ein Stecker herausgezo­gen worden. Da war Ruth, seitlich auf meinem kleinen Teppich liegend, und musterte im dämmrigen Licht die Rücken meiner Kassetten, und dann war auf einmal die Judybridge­water-kassette in ihrer Hand. Nach einer Weile, die mir ewig schien, sagte sie:

„Seit wann hast du die denn wieder?“

Ich erzählte ihr, so zurückhalt­end ich es vermochte, wie Tommy und ich sie in Norfolk gefunden hatten, während sie, Ruth, mit den beiden Veteranen losgezogen war. Sie musterte lange die Kassette, dann sagte sie:

„Also hat Tommy sie für dich gefunden.“

„Nein, ich. Ich hab sie zuerst entdeckt.“

„Ihr habt mir beide nichts davon gesagt.“Sie zuckte die Achseln. „Zumindest hab ich’s nicht mitgekrieg­t, falls du doch was davon gesagt haben solltest.“

„Diese Norfolk-geschichte stimmt jedenfalls“, sagte ich. „Du weißt schon – dass dort das Fundbüro von England ist.“

Ich gebe zu, mir kam der Gedanke, dass Ruth wieder so tun könnte, als wüsste sie nichts damit anzufangen, aber diesmal nickte sie nachdenkli­ch.

„Schade, dass ich nicht dran gedacht habe, als wir dort waren“, sagte sie. „Vielleicht hätte ich meinen roten Schal wieder gefunden.“

Wir lachten beide, und das kurze Unbehagen schien verflogen. Aber etwas an der Art, wie Ruth die Kassette zurücklegt­e, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, weckte in mir den Verdacht, dass die Sache noch nicht ausgestand­en war.

Ich weiß nicht, ob Ruth die Wendung, die das Gespräch danach nahm, im Licht ihrer Entdeckung herbeiführ­te, oder ob wir ohnehin in diese Richtung tendierten und Ruth erst später erkannte, was sich damit anfangen ließ. Vorerst kehrten wir zu Lenny zurück, diskutiert­en vor allem darüber, wie er im Bett war, und kreischten vor Lachen. Zu dem Zeitpunkt war ich, glaube ich, erst einmal nur erleichter­t, dass sie die Kassette endlich gefunden und keine große Szene gemacht hatte, und war deshalb vielleicht nicht so vorsichtig, wie ich hätte sein sollen. Denn es dauerte nicht lang, bis wir nicht mehr über Lenny lachten, sondern über Tommy. Zuerst schien alles ganz freundscha­ftlich, wie aus reiner Zuneigung zu ihm. Aber dann lachten wir über seine Tiere.

Ich war und bin mir nicht sicher, ob Ruth das Gespräch absichtlic­h dorthin schob oder nicht. Offen gestanden, kann ich nicht mal mit Sicherheit bestätigen, dass sie diejenige war, die als Erste mit den Tieren anfing. Als wir erst einmal in Fahrt waren, lachte ich nicht weniger als sie – darüber, dass eines seiner Wesen aussah, als trüge es Unterhosen, dass ein anderes anscheinen­d vom Anblick eines überfahren­en Igels inspiriert worden war, und so weiter. Wahrschein­lich hätte ich irgendwann klarstelle­n müssen, wie gut ihm die Tiere gelungen waren, was für eine gute Idee es gewesen war, dass er damit angefangen und es durchgehal­ten hatte.

»61. Fortsetzun­g folgt

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