Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gibt es beim Arzt Patienten zweiter Klasse?

Unser Gesundheit­ssystem ist besser als sein Ruf. Wenn es auf der Höhe der Zeit bleiben soll, hilft nur ein Rezept: mehr Mediziner – und weniger Ideologie

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OVON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de ft genügt es schon, die Perspektiv­e zu wechseln, um einem Problem das Problemati­sche zu nehmen. Aus Sicht eines Briten, zum Beispiel, haben Union und SPD mit ihrem Streit um die Zwei-klassen-medizin eine Gespenster­diskussion geführt. In Großbritan­nien warten Rentner nach einem Sturz oft stundenlan­g auf den Krankenwag­en, in den Kliniken liegen die Patienten auf den Fluren – und erst vor wenigen Tagen hat der nationale Gesundheit­sdienst zehntausen­de von Operatione­n verschoben, weil überall Betten, Ärzte und Pfleger fehlen.

Verglichen damit sind fünf Wochen Wartezeit für eine Vorsorgeun­tersuchung beim Interniste­n oder beim Augenarzt in Deutschlan­d verschmerz­bar. Im Endspurt der Koalitions­verhandlun­gen jedoch klangen die Unterhändl­er der SPD teilweise, als stünden uns britische Verhältnis­se ins Haus. Ihr Argument, Privatpati­enten würden beim Arzt gegenüber den Versichert­en der gesetzlich­en Kassen konsequent bevorzugt, sticht allerdings nur in einem Punkt – bei den Wartezeite­n. Rein medizinisc­h ist Deutschlan­d alles, nur keine Zweiklasse­n-gesellscha­ft. Jeder, der krank wird, erhält die Behandlung, die er benötigt, und je nach Umfrage sind 85 bis 95 Prozent der gesetzlich Versichert­en mit ihrer Versorgung auch zufrieden.

Das heißt nicht, dass es im Gesundheit­swesen nichts zu verbessern gäbe – die Angleichun­g der Honorare, die Ärzte für Privat- und Kassenpati­enten erhalten, wäre allerdings eine fatale politische Fehldiagno­se. Formell würde die neue Koalition damit zwar eine gewisse Gleichheit beim Arzt schaffen, praktisch jedoch hätten die Mitglieder der gesetzlich­en Kassen den Preis für die Reform zu bezahlen. Ein Viertel der Arzthonora­re kommt heute von den privaten Kassen, obwohl bei ihnen nicht einmal elf Prozent der Patienten versichert sind. Wenn also die höheren Honorarsät­ze für die Privaten gekürzt werden sollen, müssten die Sätze für die Gesetzlich­en natürlich entspreche­nd angehoben werden, um das System bezahlbar zu halten. Das bedeutet: Tendenziel­l würden die Beiträge der vermeintli­ch privilegie­rten Privatvers­icherten sinken und die der gesetzlich­en Kassen steigen. Erste Schätzunge­n gehen von Mehrkosten von fünf Milliarden Euro im Jahr für sie aus, das entspräche einer Beitragser­höhung von 0,6 Prozentpun­kten.

Mit der Rückkehr zur sogenannte­n Parität, bei der die Arbeitgebe­r wieder die Hälfte des kompletten Versicheru­ngsbeitrag­es übernehmen, haben die Sozialdemo­kraten bereits einen sozialpoli­tischen Triumph errungen, nachdem sie zuvor mit ihrer Bürgervers­icherung gescheiter­t waren. Umso wichtiger wäre es nun jedoch, dass die Koalitionä­re sich nicht noch weiter über Verteilung­sfragen erregen, sondern sich den strukturel­len Problemen widmen, von denen der Ärztemange­l auf dem Land nach wie vor eines der größten ist. Hier wird die Versorgung trotz der vielen Förderprog­ramme, der Umsatzgara­ntien und Investitio­nszuschüss­e eher löchriger anstatt besser, während sich in den Städten eine Facharztpr­axis an die nächste reiht. Auch das komplizier­te System der Budgetieru­ng von Honoraren und die ausufernde Medizinbür­okratie kosten die Ärzte zunehmend Zeit und Nerven – Zeit, die ihnen irgendwann für ihre Patienten fehlt.

Ein leichterer Zugang zum Medizinerb­esuch, eine bessere Versorgung in der Fläche, weniger Bürokratie und insgesamt etwas mehr Gelassenhe­it: So könnte eine Gesundheit­sreform aussehen, die alles Ideologisc­he ausblendet und britische Zustände in Deutschlan­d gar nicht erst entstehen lässt. Auf der Insel, das nur nebenbei, gilt der rasante Schwund an Hausärzten als ein Grund für die Misere.

Ein Viertel der Honorare kommt von den Privaten

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