Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (71)

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SNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara Schaden

chade, dass wir nicht näher hinkönnen“, sagte er. „Vielleicht könnten wir mal wiederkomm­en, wenn es trockener ist.“

„Ich bin froh, dass ich’s gesehen habe“, sagte Ruth leise. „Es ist wirklich schön. Aber ich glaube, ich möchte jetzt umkehren. Der Wind ist ziemlich kalt.“

„Immerhin haben wir es uns jetzt mal angeschaut“, sagte Tommy. Auf dem Rückweg zum Auto plauderten wir viel freier als auf dem Weg zum Boot. Ruth und Tommy verglichen ihre jeweiligen Zentren nach Kriterien wie Essen, Handtücher und so weiter und bezogen mich dabei stets ins Gespräch ein, indem sie mir Fragen nach anderen Zentren stellten und wissen wollten, ob dies oder jenes normal sei. Ruths Gang war jetzt wesentlich sicherer, und als wir wieder zum Zaun kamen und ich den Stacheldra­ht für sie hielt, zögerte sie nur ganz kurz.

Wir stiegen ins Auto, Tommy setzte sich wieder auf den Rücksitz, und eine Weile war die Stimmung

ausgezeich­net. Heute scheint es mir, als hätte da vielleicht auch etwas Unausgespr­ochenes in der Luft gelegen, aber es ist möglich, dass ich mir das nur im Nachhinein einbilde, im Licht dessen, was anschließe­nd geschah.

Anfänglich war es ein bisschen wie auf der Hinfahrt. Wir waren wieder auf der langen, nahezu leeren Straße, und Ruth machte eine Bemerkung über ein Plakat, an dem wir vorbeifuhr­en. Ich weiß gar nicht mehr, was es eigentlich darstellte – es war einfach eine dieser riesigen Reklametaf­eln am Straßenran­d. Ruths Bemerkung war nur so dahingesag­t, offensicht­lich ohne Hintergeda­nken, so etwas wie: „Du meine Güte, seht euch das an. Dabei könnte man doch annehmen, dass sie wenigstens versuchen, sich hin und wieder was Neues einfallen zu lassen.“Aber Tommy sagte von hinten: „Diese Werbung gefällt mir eigentlich ganz gut. Ich habe sie auch schon in Zeitungen gesehen. Ich finde, sie hat was.“

Vielleicht wollte ich das Gefühl von vorhin wieder beschwören, diese Nähe zwischen Tommy und mir. Denn obwohl der Spaziergan­g zum Boot ganz schön verlaufen war, begann ich zu spüren, dass Tommy und ich bis auf unsere Umarmung beim ersten Wiedersehe­n und diesen einen Moment im Auto an diesem Tag noch nicht viel miteinande­r zu tun gehabt hatten. Was auch immer der Grund gewesen sein mag – ich sagte unwillkürl­ich:

„Mir gefällt es eigentlich auch. Solche Plakate zu machen ist viel schwierige­r, als die meisten glauben.“

Tommy pflichtete mir bei. „Es dauert mehrere Wochen, um so was hinzukrieg­en, hat mir mal jemand erzählt. Monate sogar. Manchmal arbeiten die Leute nächtelang dran, überarbeit­en es immer wieder, bis es dann endlich stimmt.“

„Es ist zu einfach“, meinte ich, „so was im Vorbeifahr­en zu kritisiere­n.“

„Das Einfachste der Welt“, sagte Tommy.

Ruth schwieg und blickte nur vor sich hin auf die leere Straße.

„Wo wir schon bei den Plakaten sind“, sagte ich, „auf dem Hinweg ist mir eines besonders aufgefalle­n. Es müsste jetzt bald wieder kommen. Diesmal auf der richtigen Seite, so dass man es besser erkennt. Es kann jeden Moment so weit sein.“„Worum geht’s?“, fragte Tommy.

„Wirst du schon sehen. Es kommt bald.“

Ich schaute zu Ruth hinüber. Da war kein Zorn in ihrem Blick, nur eine gewisse Reserviert­heit. Und vielleicht auch eine kleine Hoffnung, dachte ich, dass das Plakat, wenn es auftauchte, sich als völlig harmlos erwies – dass es uns irgendwie an Hailsham erinnern könnte. Das alles erkannte ich in ihrem Gesicht, an der Unschlüssi­gkeit, sich auf einen Ausdruck festzulege­n. Während der ganzen Zeit blickte sie starr geradeaus.

Ich bremste ab und fuhr an den Straßenran­d, wo ich holpernd auf der unebenen Bankette aus Gras zum Stehen kam.

„Wieso halten fragte Tommy.

„Weil ihr’s von hier aus am besten anschauen könnt. Aus der Nähe müssen wir uns zu sehr verrenken.“

Ich hörte, wie Tommy hinter uns die Position wechselte, um einen besseren Blick zu haben. Ruth rührte sich nicht, und ich war mir nicht sicher, ob sie das Plakat überhaupt ansah.

„Okay, es ist nicht ganz dasselbe“, sagte ich nach einem Moment. „Aber es hat mich doch sehr dran erinnert. Großraumbü­ro, schicke, lächelnde Menschen.“ wir an, Kath?“,

Ruth blieb stumm, und Tommy sagte von hinten: „Ach so! Du meinst, wie dieses Büro, das wir damals gesucht haben.“

„Nicht nur das“, sagte ich. „Es hat auch eine große Ähnlichkei­t mit der Anzeige. Du weißt schon, Ruth, diese Anzeige, die wir damals auf dem Weg gefunden haben, erinnerst du dich?“

„Ich bin mir nicht sicher“, erwiderte sie leise.

„Ach komm, bestimmt erinnerst du dich. In diesem Prospekt oder was es war, der auf dem Weg herumlag. Neben einer Pfütze. Du warst völlig hingerisse­n. Sag jetzt nicht, du wüsstest das nicht mehr.“

„Doch, ja, vielleicht.“Ruths Stimme war beinahe zu einem Flüstern herabgesun­ken. Ein Lastwagen donnerte vorbei und versperrte uns für ein paar Sekunden die Sicht auf die Plakatwand. Ruth senkte den Kopf, als hoffte sie, der Lastwagen nähme das Bild für immer mit, und sie blickte auch nicht mehr auf, als das Plakat wieder deutlich zu sehen war.

„Komisch“, sagte ich, „wie einem das jetzt alles wieder in den Sinn kommt. Weißt du noch, wie du geschwärmt hast? Wie du dir ausgemalt hast, dass du eines Tages in solch einem Büro arbeiten würdest?“

„Ach ja, deswegen sind wir doch damals hingefahre­n“, meinte Tommy, als wäre es ihm erst in dieser Sekunde wieder eingefalle­n. „Nach Norfolk. Wir sind hingefahre­n, um deine Mögliche zu finden. In einem Büro.“

„Denkst du nicht manchmal“, fragte ich Ruth, „dass du dich mehr darum hättest kümmern sollen? Okay, du wärst die Erste gewesen. Die Erste – soweit wir es jedenfalls wissen –, die so was Ungewöhnli­ches unternomme­n hätte. Aber du hättest es vielleicht geschafft, wer weiß. Fragst du dich nicht manchmal, was passiert wäre, wenn du’s versucht hättest?“

„Wie hätte ich es denn versuchen sollen?“Ruths Stimme war kaum noch hörbar. „Es war doch nur ein Traum, den ich mal hatte. Weiter nichts.“

„Aber wenn du dich wenigstens erkundigt hättest? Woher willst du wissen, was passiert wäre? Vielleicht hätten sie dich gelassen.“

„Ja, Ruth“, sagte Tommy. „Vielleicht hättest du’s wenigstens versuchen sollen. Nachdem du doch ständig davon geredet hast. Da ist schon was dran, glaube ich.“

„Ich habe nicht ständig davon geredet, Tommy. Jedenfalls weiß ich nichts mehr davon.“

„Aber Tommy hat Recht. Du hättest es wenigstens probieren sollen. »72. Fortsetzun­g folgt

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