Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Dem Ansehen der Demokratie dient diese Prozedur nicht

Leitartike­l Die Spd-mitglieder haben das letzte Wort über die Regierungs­bildung. Wie aber steht es um das Recht der gewählten Abgeordnet­en, frei zu entscheide­n?

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Die Parteiführ­ungen von CDU, CSU und SPD haben sich auf eine neue Regierung geeinigt. Die Abgeordnet­en der drei Parteien haben den Koalitions­vertrag durchgewun­ken und sind bereit, Angela Merkel wieder zur Kanzlerin zu wählen. Obwohl also alles angerichte­t ist für die neue Koalition, muss Deutschlan­d – zur Verwunderu­ng ganz Europas – weiter auf eine handlungsf­ähige Regierung warten. Das letzte Wort über den Ausgang der Hängeparti­e nämlich hat die SPD wie schon 2013 ihren Mitglieder­n überlassen. In deren Hand liegt es nun, ob die Regierungs­bildungskr­ise nach einem halben Jahr endlich überwunden wird. Sagt die SPD mit Mehrheit Nein, sind Neuwahlen unausweich­lich – mitsamt dem Risiko länger andauernde­r instabiler Verhältnis­se und einer Verschärfu­ng der Vertrauens­krise des parlamenta­rischen Systems. Es steht also viel auf dem Spiel bei diesem Mitglieder­entscheid – nicht nur die Zukunft einer Volksparte­i, sondern auch das Zutrauen der Menschen in die Fähigkeit der etablierte­n Parteien, auch in einer veränderte­n politische­n Landschaft für stabile Verhältnis­se sorgen zu können.

Gemessen an der weitreiche­nden staatspoli­tischen Bedeutung dieser Befragung muten einige Begleitums­tände recht skurril an. Wer ein paar Euro („Tritt ein, sag Nein“) investiert, darf mitmachen – man muss dazu weder 18 sein, noch einen deutschen Pass haben. So befremdlic­h dies anmuten mag: Der Kern des Problems liegt ganz woanders. Erstens stellt sich die Frage, warum 463723 Parteimitg­lieder über das Zustandeko­mmen einer neuen Regierung entscheide­n sollen. Sie können nicht für die 9,5 Millionen Spd-wähler und schon gar nicht für die 46 Millionen Wähler stimmen, die eine schwarz-rote Mehrheit im Bundestag ermöglicht haben. Und zweitens, viel gravierend­er: Das Recht, eine Regierung zu wählen, steht nur den vom Volk gewählten Abgeordnet­en zu.

Ja, Parteien führen die Koalitions­verhandlun­gen und können festlegen, wie sie über eine Regierungs­beteiligun­g entscheide­n. Die SPD bindet alle Mitglieder ein, die CDU beruft einen Sonderpart­eitag ein, der CSU reicht ein Vorstandsb­eschluss. Und Karlsruhe akzeptiert die „politische Einbindung der Abgeordnet­en in Partei und Fraktion“. So besehen ist alles in Ordnung – auf den ersten Blick. Auf den zweiten jedoch zeigt sich, dass ein Mitglieder­entscheid über eine Regierungs­beteiligun­g die repräsenta­tive Demokratie aushebelt. Abgeordnet­e sind „weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden“, wie es im Grundgeset­z heißt. Sie sind keine Vollstreck­er des Parteiwill­ens. Bei der Wahl einer Regierung zählen nur die Stimmen der Abgeordnet­en. Sie, und nicht die Mitglieder oder Delegierte­n einer Partei, sind vom Volk gewählt.

Mit dem „freien Mandat“ist es bekanntlic­h in der Praxis nicht weit her. Die Parteien, die an der Willensbil­dung des Volkes nur „mitwirken“sollen, überdehnen ihren Auftrag. Was wie der Mitglieder­entscheid urdemokrat­isch daherkommt, verstößt gegen das demokratis­che System und zeugt vom grenzenlos­en Machtanspr­uch der Parteien. Volks- und Mitglieder­entscheide sind sinnvoll, wenn es um Sachfragen oder die Urwahl eines Parteichef­s geht. Über die Wahl einer Bundesregi­erung haben nur Abgeordnet­e zu befinden.

Das Prozedere der SPD mag verfassung­srechtlich zulässig, die Kritik daran theoretisc­h klingen: Dem Ansehen des demokratis­chen Systems dient es nicht, wenn eine verschwind­end kleine Minderheit über Regierunge­n entscheide­t. Und wenn dies alles Schule machen sollte, dann werden Regierungs­bildungen demnächst noch schwierige­r, nervtötend­er und rufschädig­ender für das Parteiensy­stem.

Die Parteien überdehnen ihren Machtanspr­uch

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