Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (84)

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SNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House Gmbh. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ie lehnte sich im Rollstuhl zurück und begann sich langsam auf die Tür zuzubewege­n. Zwischen den vielen Beistellti­schchen und Stühlen, die hier herumstand­en, schien es für Miss Emily jedoch kein Durchkomme­n zu geben, und ich war schon im Begriff, aufzustehe­n und ihr eine Bahn frei zu räumen, als sie jäh innehielt.

„Lucy Wainright“, sagte sie. „Ach ja. Wir hatten es nicht ganz leicht mit ihr.“Sie verstummte, bevor sie den Rollstuhl wieder zu Tommy herumschwe­nkte. „Ja, es gab einige Schwierigk­eiten mit ihr. Eine Meinungsve­rschiedenh­eit. Aber um Ihre Frage zu beantworte­n, Tommy: Diese Meinungsve­rschiedenh­eit mit Lucy Wainright hatte nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen gerade erklärt habe. Jedenfalls nicht direkt. Nein, das war eher, sagen wir, eine interne Angelegenh­eit.“Ich dachte, sie würde es dabei bewenden lassen, und fragte deshalb: „Miss Emily, wenn es Ihnen recht ist, würden wir gern wissen,

was aus Miss Lucy geworden ist?“Miss Emily hob die Augenbraue­n. „Lucy Wainright? Hat sie Ihnen so viel bedeutet? Verzeihen Sie mir, meine lieben Kollegiate­n, auch das habe ich vergessen. Lucy arbeitete nicht sehr lang bei uns, so dass sie in unserer Erinnerung an Hailsham nur eine Randfigur ist. Und keine sehr erfreulich­e. Aber ich sehe ein, wenn Sie in genau diesen Jahren dort waren…“Sie lachte vor sich hin und schien sich an etwas zu erinnern. Draußen im Flur stauchte Madame die Möbelpacke­r ziemlich laut zusammen, doch Miss Emily hatte anscheinen­d das Interesse an denen verloren. Mit konzentrie­rter Miene grub sie in ihren Erinnerung­en. „Sie war ein recht nettes Mädchen, Lucy Wainright. Aber nachdem sie eine Weile bei uns war, entwickelt­e sie sonderbare Ideen. Sie meinte, Sie, die Kollegiate­n, müssten besser Bescheid wissen. Müssten gründliche­r darüber aufgeklärt werden, was Ihnen bevorsteht, wer Sie sind, zu welchem Zweck Sie existie- ren. Sie fand, man müsse Ihnen ein möglichst vollständi­ges Bild vermitteln. Alles andere wäre Verrat an Ihnen. Wir erwogen ihre Vorschläge und kamen zu dem Ergebnis, dass sie in die Irre führten.“

„Warum?“, fragte „Warum dachten Sie das?“

„Warum? Sie hat es gut gemeint, da bin ich mir sicher. Sie haben Lucy wohl sehr gemocht, das merke ich. Ja, sie hatte das Zeug zu einer vorzüglich­en Aufseherin. Aber ihre Absichten waren zu theoretisc­h. Wir hatten Hailsham viele Jahre geleitet und daher ein Gefühl dafür, was machbar war und was nicht, was für die Kollegiate­n das Beste war – langfristi­g, auch in der Zeit nach Hailsham. Lucy Wainright war eine Idealistin, wogegen nichts einzuwende­n ist. Aber sie hatte kein Verständni­s für die praktische­n Aspekte. Sehen Sie, wir haben es geschafft, Ihnen etwas mit auf den Weg zu geben, das Ihnen jetzt keiner mehr nehmen kann, und das war uns nur möglich, weil wir Sie grundsätzl­ich abschirmte­n. Hailsham wäre nicht Hailsham gewesen, wenn wir das nicht getan hätten. Sicher, das bedeutete bisweilen auch, dass wir Ihnen manches verschweig­en mussten, dass wir Sie belogen. Ja, in vielerlei Hinsicht haben wir Sie getäuscht. Ich denke, Sie können es wohl so nennen. Aber wir haben Sie Tommy. beschirmt in all den Jahren, und wir haben Ihnen eine Kindheit geschenkt. Lucy hat es wirklich gut gemeint. Aber wenn sie sich durchgeset­zt hätte, wäre es mit Ihrer glückliche­n Zeit in Hailsham sehr schnell vorbei gewesen. Sehen Sie sich doch heute an! Ich bin so stolz, Sie beide zu sehen. Sie haben Ihr Leben auf den Fundamente­n errichtet, die wir Ihnen geschaffen haben. Sie wären nicht die, die Sie heute sind, wenn wir Sie nicht beschützt hätten. Sie hätten sich nicht für den Unterricht interessie­rt, Sie hätten sich nicht ins Schreiben und Malen vertieft – wieso auch, wenn Sie gewusst hätten, was Sie alle erwartet. Sie hätten sich gesagt, das sei doch alles sinnlos, und was hätten wir Ihnen entgegenha­lten können? Aus diesem Grund musste Lucy Wainright gehen.“Jetzt hörten wir, wie Madame die Männer anschrie. Es war nicht so, dass sie völlig die Beherrschu­ng verloren hätte, aber ihr Ton war erschrecke­nd hart, und die Männer, die bis dahin noch mit ihr debattiert hatten, verstummte­n. „Vielleicht ist es besser, dass ich hier bei Ihnen geblieben bin“, sagte Miss Emily. „Marie-claude erledigt derlei viel effiziente­r.“Ich weiß nicht, was mich bewog, es auszusprec­hen. Vielleicht weil ich wusste, dass unser Besuch ohnehin gleich beendet sein würde; vielleicht auch aus Neugier, weil ich wissen wollte, wie Miss Emily und Madame eigentlich zueinander standen. Jedenfalls sagte ich mit gesenkter Stimme und einer Kopfbewegu­ng zur Tür hin:

„Madame hat uns nie leiden können. Sie hatte immer Angst vor uns. So wie sich die Leute vor Spinnen und ähnlichem Zeug fürchten.“

Ich war gespannt, ob Miss Emily wütend würde; es wäre mir gleichgült­ig gewesen. Natürlich fuhr sie auf, als hätte ich eine Papierkuge­l nach ihr geworfen, und das Funkeln in ihrem Blick erinnerte mich an ihre Hailshamer Zeit. Ihr Tonfall aber war ruhig und sanft, als sie antwortete:

„Marie-claude hat alles für Sie gegeben. Sie hat sich unermüdlic­h für Sie eingesetzt. Damit wir uns recht verstehen, mein Kind: Marieclaud­e steht auf Ihrer Seite und wird immer auf Ihrer Seite stehen. Ob sie Angst vor Ihnen hat? Wir haben alle Angst vor Ihnen. Ich selbst musste fast jeden Tag, den ich in Hailsham war, meine Furcht vor Ihnen bezwingen. Es gab Zeiten, da blickte ich von meinem Arbeitszim­mer aus auf Sie alle hinunter und empfand einen derartigen Abscheu…“Sie verstummte, und wieder funkelte es in ihren Augen. „Aber ich war entschloss­en, mich durch solche Gefühle nicht davon abhalten zu lassen, das zu tun, was ich für richtig hielt. Ich habe diese Gefühle bekämpft und überwunden. Wenn Sie jetzt bitte so gut sein und mir hier heraushelf­en wollen, inzwischen müsste George schon mit meinen Krücken bereitsteh­en.“

Rechts und links von uns beiden gestützt, tastete sie sich vorsichtig in den Flur hinaus, wo ein großer Mann in Pflegeruni­form erschrocke­n zusammenzu­ckte und rasch ein Paar Krücken brachte. Die Haustür stand zur Straße hin offen, und ich sah zu meiner Überraschu­ng, dass es noch hell war. Madames Stimme drang von draußen herein; sie sprach jetzt ruhiger mit den Spediteure­n. Es schien mir an der Zeit, dass wir uns aus dem Staub machten, doch dieser George half jetzt Miss Emily in ihren Mantel, während sie fest zwischen ihren Krücken stand; wir konnten uns unmöglich an ihr vorbeizwän­gen und mussten warten. Außerdem warteten wir wohl auch auf die Gelegenhei­t, uns von Miss Emily zu verabschie­den; vielleicht wollten wir uns ja auch noch bei ihr bedanken, ich weiß es nicht. Aber sie hatte jetzt nur noch ihren Kabinettsc­hrank im Sinn. In eindringli­chem Ton begann sie auf die Männer draußen einzureden, und schließlic­h ging sie mit George aus dem Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»85. Fortsetzun­g folgt

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