Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Liebesaben­teuer wird zum Horrortrip

Kriminalit­ät Es klingt unglaublic­h: Ein Augsburger will in Heilbronn eine Prostituie­rte besuchen. Doch er wird entführt, verprügelt und drei Tage gefangen gehalten. In Todesangst zahlt er 40000 Euro. Jetzt stand einer der Täter vor Gericht

- VON KLAUS UTZNI

Er wollte Sex kaufen. Und er wollte anonym bleiben, nicht erkannt werden. Auf der Internet-plattform „Kaufmich.com“stieß ein 56-jähriger Augsburger in der Nacht zum 12. Februar 2017 auf eine Frau, die sich „Julie“nannte und die anbot, sich ihm fünf Stunden lang für 700 Euro hinzugeben. Dafür nahm der Freier einen langen Weg in Kauf. Noch in der Nacht fuhr er 225 Kilometer weit nach Öhringen bei Heilbronn, wo „Julie“ihn morgens um 6 Uhr empfangen wollte. Als der 56-Jährige in einem Industrieg­ebiet aus seinem Auto stieg, brach die Hölle über ihn herein. Es begannen drei Tage voller Horror, Schmerzen und Todesängst­en.

Was in jenen Tagen geschah, erinnert Oberstaats­anwalt Matthias Nickolai an einen schlechten Krimi, dessen Drehbuch man keinen Glauben schenken kann. „So eine Serie schwerster Straftaten habe ich in den 15 Jahren, in denen ich in Augsburg tätig bin, noch nicht erlebt“, sagt der Ankläger, der in diesem Prozess vor dem Jugendschö­ffengerich­t einem 20-Jährigen unter anderem erpresseri­schen Menschenra­ub, Brandstift­ung, gefährlich­e Körperverl­etzung und räuberisch­e Erpressung vorwirft. Das Gericht unter Vorsitz von Angela Reuber urteilt nur über den 20-Jährigen. Seine drei älteren Komplizen, zwei Männer, 23 und 25 Jahre alt, sowie eine Frau, 22, müssen sich bald vor der 3. Strafkamme­r des Landgerich­ts verantwort­en. Der Staatsanwa­lt deutet an, dass dort Strafen zwischen zwölf und 14 Jahren zur Debatte stehen.

Was war geschehen? Das Quartett – Enrico R., der 20-Jährige, und seine Kumpel Maik, Kevin und Natalie – litten allesamt unter Geldnot. Den Ermittlung­en zufolge war es Maik, der auf die Idee kam, Freier abzuzocken. So richteten sie auf der Sex-plattform „Kaufmich.com“ein Profil für Natalie ein, die sich „Julie“nannte und Sex gegen Geld anbot. Am Abend des 11. Februar 2017 meldete sich der erste Freier, wollte 50 Euro zahlen. Auch er wurde in ein Industrieg­ebiet gelockt. Doch der Plan, ihn auszuraube­n, scheiterte. Der Mann entdeckte das wartende Räuber-quartett, verriegelt­e die Autotüren. „Aufmachen oder es knallt“, schrien die Männer. „Schieß doch“, antwortete der Freier. Der 20-Jährige drückte zweimal mit einer Gaspistole ab, schoss durch das einen Spalt offen stehende Fenster. Dann gab der Freier Gas und brauste davon.

Kurz nach diesem missglückt­en Coup meldete sich der Augsburger. „Er scheint Geld zu haben“, soll Maik gesagt haben, als sich der 56-Jährige bereit erklärte, für fünf Stunden Sex 700 Euro zu zahlen. Als der Augsburger in dem Industrieg­ebiet eintraf, war das Quartett gerüstet. Die Männer waren maskiert, hatten sich mit Pfefferspr­ay, Schlagstoc­k und Elektrosch­ocker bewaffnet. Zwei versteckte­n sich hinter einem Container, der dritte wartete in einem gestohlene­n Auto in der Nähe. Als der 56-Jährige ausstieg, fielen sie über ihn her, sprühten ihm Pfefferspr­ay ins Gesicht. Der Freier riss sich los, wollte flüchten. Da gab der dritte Mann im Auto Gas. Er überfuhr den Flüchtende­n, der mit dem Kopf auf die Motorhaube aufschlug und zu Boden fiel. Die Gruppe prügelte – so die Ermittlung­en – auf ihr Opfer ein, drohte mit einer Pistole. Der schwer verletzte Mann – er hat einen doppelten Beinbruch, eine Kniefraktu­r und ein Schädelhir­ntrauma erlitten – wurde ins Auto verfrachte­t. Man verband ihm die Augen, schlug weiter auf ihn ein.

Auf der Fahrt zu einem Campingpla­tz, wo die Gruppe weitere gestohlene Fluchtauto­s abgestellt hatte, tauchte unvorherge­sehen eine Polizeistr­eife auf. Dem Quartett gelang es, den Streifenwa­gen abzuschütt­eln. Auf dem Campingpla­tz erlebte der Augsburger Todesängst­e. Denn die Männer übergossen eines der gestohlene­n Autos mit Benzin, zündeten es an, sodass es in Flammen aufging. Vor lauter Angst, es könne ihm ans Leben gehen, versprach der 56-Jährige den Räubern, ihnen seine gesamten Ersparniss­e zu geben.

Zu diesem Zeitpunkt stieg der nun angeklagte 20-Jährige aus und ging nach Hause. „Ich wollte nicht mehr mitmachen“, sagt er. Was mit dem Opfer geschah, will er nicht gewusst haben. Für den Augsburger ging der Horror weiter. Die drei anderen Täter fuhren mit ihm zuerst nach München. Dort musste der 56-Jährige ein Luxusauto, einen Audi Q7, für 1700 Euro anmieten. Dann wurde er in seine Augsburger Wohnung gebracht. Auf dem Laptop musste er die 40 000 Euro, die er angelegt hatte, freigeben.

Während einer der Täter den Schwerverl­etzten bewachte, hoben die anderen das Geld nach und nach

Als sein Bewacher einschlief, rief er laut um Hilfe

an Bankautoma­ten ab. Am Ende verkauften sie noch das Auto des 56-Jährigen für 8000 Euro. Das Opfer kam unter kuriosen Umständen am 14. Februar frei. Als sein Bewacher eingeschla­fen war, rief er um Hilfe. Nachbarn alarmierte­n den Rettungsdi­enst, das Opfer kam sofort ins Klinikum, der Bewacher wurde festgenomm­en, die Mittäter wenig später verhaftet. Ein Teil der Beute konnte sichergest­ellt werden. Im Prozess legt der Angeklagte, verteidigt von Anwältin Kerstin Baumann, ein Geständnis ab: „Ich schäme mich zutiefst. Es tut mir leid.“Er sei in die Sache hinein geschlitte­rt, habe sich dem Gruppendru­ck nicht entziehen können. Das Opfer, so sagt dessen Anwältin Mandana Mauss, sei aufgrund der Verletzung­en heute zu 30 Prozent behindert, werde wohl ein Leben lang an einem Trauma leiden. Der Angeklagte akzeptiert ein geforderte­s Schmerzens­geld von 15000 Euro. Das Gericht verurteilt den 20-Jährigen zu einer Jugendstra­fe von vier Jahren und zwei Monaten. Im Jugendknas­t kann er jetzt seine Ausbildung als Elektronik­er abschließe­n. Seine mutmaßlich­en Mittäter, die alle in Untersuchu­ngshaft sitzen, müssen sich auf einen längeren Gefängnisa­ufenthalt gefasst machen.

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 ?? Foto: B. Jörg ?? Enrico R. war dabei, als eine Gruppe einen Augsburger entführte. Er legte vor Gericht, hier mit seiner Anwältin Kerstin Baumann, ein Geständnis ab und zeigte sich reumütig. Seine mutmaßlich­en Komplizen warten noch auf ihren Prozess.
Foto: B. Jörg Enrico R. war dabei, als eine Gruppe einen Augsburger entführte. Er legte vor Gericht, hier mit seiner Anwältin Kerstin Baumann, ein Geständnis ab und zeigte sich reumütig. Seine mutmaßlich­en Komplizen warten noch auf ihren Prozess.

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