Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Eiskanal und seine Geschichte
Der Eiskanal und seine Geschichte (Serie/teil 2) Slalomkanute und Team-weltmeister Karl Heinz Englet war 1971 nicht nur der Erstbefahrer der modernisierten Strecke, sondern entzündete dort auch das olympische Feuer
Als die Olympischen Spiele 1972 an München vergeben worden waren, sollte dort natürlich auch für die Premiere der Sportart Kanuslalom eine möglichst attraktive Sportstätte gefunden werden. Doch in der Gastgeberstadt München wurde das Olympische Komitee im Vorfeld nicht so recht fündig. Stattdessen rückte das knapp 60 Kilometer entfernte Augsburg mit seinem Eiskanal in den Fokus.
Hier fanden die Verantwortlichen nicht nur die von ihnen gewünschten optimalen Gegebenheiten, sondern auch ein umtriebiges Organisationsquartett aus Oberbürgermeister Wolfgang Pepper, Sportbürgermeister Hans Breuer, Sportjournalist Robert Deininger und Augsburgs erfolgreichstem Kanuten Karl Heinz Englet. Alle waren beseelt davon, die Wettkämpfe an den Eiskanal zu holen – und jeder tat sein Möglichstes dafür. Schnell hatte jeder der vier eine besondere Rolle in der Olympia-organisation. „Ich würde sagen, ich war das Gesicht der Bewerbungskampagne“, schildert Karl Heinz Englet, der Teamweltmeister im Kanuslalom von 1963, seine Funktion in diesem Augsburger Quartett, das schnell um viele weitere Mitstreiter und Mithelfer erweitert wurde. Englet als aktiver Sportler war damals vor allem in Sachen Werbung, Streckengestaltung und technischen Fragen rund um den Sport beratend tätig.
Doch als die Strategen aus München
Die erste künstliche Kanustrecke der Welt
ihre innovativen Pläne für den Umbau der alten Eiskanalstrecke vorlegten, geriet der Kanute Englet ins Staunen. „Unsere dilettantischen Planungsvorschläge mit kleinen Verbesserungen an der alten Eiskanalstrecke wurden schnell vom Tisch gefegt. Stattdessen entstand ein neuer Eiskanal quer durch die Wiese am Lech. Damit war die erste künstliche Kanustrecke der Welt in Planung. Eine Sensation“, erinnert sich Englet.
Genau ein Jahr dauerte der Bau der 660 Meter langen und zehn Meter breiten Fahrrinne mit ihren originellen Betoneinbauten, die mittlerweile Kultstatus erlangt haben, wie etwa Moby Dick, die Torpedowalze oder die Waschmaschine.
Dass er bei der olympischen Vorpremiere 1971 als erster Kanute die neue Strecke hinunterfahren durfte, hat Karl Heinz Englet bis heute nicht vergessen. Denn für ihn war es damals ein völlig neues Paddel-erlebnis. „Da gab es auf einmal die steilen Betonwände, die das Wasser heftig zurückwarfen. Da brauchten wir Kanuten eine ganz neue Technik, um uns darauf einzustellen und die Boote in der Spur zu halten“, erzählt Englet.
Was damals noch niemand wusste: Ein Sportfunktionär aus der DDR weilte regelmäßig am Eiskanal, um den Baufortschritt zu verfolgen. Niemand bekam mit, dass er die Strecke dabei fotografierte und dokumentierte und so tatkräftig mithalf, dass in Leipzig eine exakte Kopie des Augsburger Eiskanals ge- baut werden konnte. So war die ostdeutsche Paddelkonkurrenz bestens über die neuen Anforderungen im Wildwassersport informiert – und sie sicherte sich bei den Spielen unter anderem alle olympischen Goldmedaillen in den vier Kanuslalom-disziplinen. „Die Wettkämpfe 1972 waren für die DDR politisch extrem wichtig und sollten für sie zu einer Bühne werden, auf der sie dem westdeutschen Klassenfeind zeigte, dass der ostdeutsche Staat die besseren und erfolgreicheren Sportler ins Rennen schickte“, schrieb Englet in seiner 2016 erschienenen Autobiografie „Der Mann des Feuers“.
Was ihn an der Olympiaanlage als Sportler, als langjähriger Funktionär für Kanu Schwaben Augsburg sowie als ehemaliger Kommunalpolitiker bis heute fasziniert: Die Stadt Augsburg machte sich die Sportstätte für einen „Schnäppchenpreis“zu eigen. 52 Prozent der Investitionssumme von den damals 15,4 Millionen Mark wurden durch olympische Sondermittel finanziert, die restlichen 48 Prozent teilten sich Bund, Land und die Stadt Augsburg zu je einem Drittel. Damit bekam die Stadt eine olympische Sportstätte für einen Eigenanteil von 2,48 Millionen Mark oder – in der heutigen
Währung gerechnet – 1,24 Millionen Euro. „Es ist bestimmt finanziell eine der besten Investitionen, die von der Stadt Augsburg in ihrer über 2000-jährigen Geschichte getätigt wurde“, ist Englet nach wie vor überzeugt.
Für ihn war der bewegteste Moment weniger seine erste Fahrt im Eiskanal als vielmehr das Entzünden des olympischen Feuers vor tausenden von Menschen, die sich zum Start der Wettbewerbe an der Kanustrecke versammelt hatten. Nach Stafetten von mehreren Augsburger Vereinssportlern war Englet an der Reihe. Er schrieb in seinen Memoiren: „Heute noch ein lebendiger und berührender Moment für mich: 30 000 Gäste im Stadion erwarten mucksmäuschenstill unsere Ankunft. Pünktlich um 12 Uhr entzünde ich die olympische Flamme am Austragungsort. Der stürmische Jubel klingt mir noch im Ohr. Bis heute ein bewegendes Gefühl, zu diesem einmaligen Ereignis auserkoren worden zu sein.“
Zumal Karl Heinz Englet bis heute von der Einzigartigkeit dieses Moments überzeugt ist. „Olympische Spiele in Augsburg wird es vermutlich nie mehr geben.“
Serie Am 23. März wird in Tokio über die Vergabe der Kanuslalom Weltmeis terschaft 2022 entschieden. Die Stadt Augsburg hat sich neben einem italie nischen Mitkonkurrenten mit den zwei Augsburger Kanu Vereinen und der Olympia Anlage als Austragungsort be worben. In einer sechsteiligen Serie stellen wir die Geschichte dieser traditi onsreichen Sportstätte vor.