Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Leitartike­l Wir dürfen keine Putin-versteher sein

Sollten wir den Präsidente­n nicht kritisiere­n – wegen unserer Geschichte und seines Rückhalts daheim? Unsinn. Eine Autokratie müssen wir eine Autokratie nennen

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger allgemeine.de

Es ist gefährlich, Wladimir Putin gefährlich zu werden. Offenbar lebensgefä­hrlich. Der Skandal um die mutmaßlich von Russland orchestrie­rte Giftgasatt­acke auf einen russischen Exspion ist nur ein weiterer Ausläufer jener Blutspur, die sich durch Putins Jahre an der Macht zieht.

Wer ihn hierzuland­e kritisch sieht, riskiert nicht sein Leben. Aber gerät doch gesellscha­ftlich ins Kreuzfeuer. Oft schallt solchen Kritikern entgegen – von ganz links, von ganz rechts, aber auch aus der sogenannte­n bürgerlich­en Mitte –, es mangele wohl an Respekt vor dem Riesenreic­h, das so viel erlitten habe von deutscher Hand. „Wirst du etwa vom amerikanis­chen Geheimdien­st bezahlt?“, lautet ein beliebter Vorwurf.

Gerne sagen Putins Verteidige­r, die russische Seele sehne sich nun mal nach einer starken Hand, das zeige ja schon die Popularitä­t des Präsidente­n. Kurzum: Wer den Mann im Kreml allzu kritisch angeht, so das Diktum, versteht Russland einfach nicht.

Brandgefäh­rlich wäre aber, sich dadurch von der Kritik an Putin abbringen zu lassen. Gewiss, es steht uns Deutschen kaum an, Russland belehren zu wollen (interessan­terweise existieren ähnliche Hemmungen gegenüber Israel nicht). Auch würde Putin am Sonntag in der Tat selbst bei ganz transparen­ter Auszählung locker eine weitere Amtszeit gewinnen.

Trotzdem ist sein Regime keineswegs eine lupenreine Demokratie, wie der Putin-fan (und Angestellt­e?) Gerhard Schröder einmal diagnostiz­ierte. Sondern ein Regime, das zynische Machtpolit­ik betreibt, in Syrien wie in der Ukraine, Fake News streut und in Osteuropa wieder auf Einschücht­erung setzt – sowie offenbar auf den Straßen von London zu morden versucht.

Zudem: eine Kleptokrat­ie, in der eine winzige Elite Milliarden außer Landes schafft. Die Belege für die irrwitzige Korruption der Putinvertr­auten füllen Bibliothek­en.

Bezahlen müssen dafür die russischen Bürger, deren Zukunft verscherbe­lt wird. Die Infrastruk­tur des Riesenland­es ist verrottet, russische Ingenieure melden kaum Patente an. Ein russischer Jugendlich­er hat eine etwa so hohe Lebenserwa­rtung wie einer im Chaosstaat Haiti. Die soziale Schieflage ist schiefer als in den vermeintli­ch so unsozialen USA.

Warum die Russen dennoch zufrieden scheinen, dass Putin fast wie einst Stalin oder die Zaren unkontroll­iert durchregie­rt? Das liegt wohl kaum daran, dass sie keine demokratis­chen Gelüste verspüren. Über kaum ein anderes Volk würden wir uns so einen Satz zu sagen wagen. Nein, es liegt daran, dass sie schlicht keine Chance hatten, eine funktionie­rende Demokratie zu formen. Die wirren Jahre nach dem Ende der Sowjetunio­n bestimmte Boris Jelzin, trinkstark, aber politisch schwach. Bald übernahm Putin – mit dem erklärten Ziel, das wird immer klarer, demokratis­che Institutio­nen höchstens als Fassade stehen zu lassen.

Das ist ihm gelungen: Es existiert in Russland derzeit kein „öffentlich­er Raum“, den Jürgen Habermas als unerlässli­ch für demokratis­che Diskurse definierte. Es gibt kein Vertrauen in Institutio­nen. Es gibt nur den – von gefügigen Staatsmedi­en stetig eingeträuf­elten – strikten Glauben an Putin.

Wer diesen unseligen Zustand kritisch beschreibt, will nicht den Kalten Krieg neu befeuern oder von den Sünden anderer Nationen ablenken, sondern einfach daran erinnern, dass demokratis­che Werte auch für Russen gelten. Zumal für jene, die Putins Härte alltäglich spüren, kritische Blogger etwa, Feministin­nen, Homosexuel­le.

Schon in deren Sinne müssen wir es ausspreche­n, immer wieder: Putins Russland ist eine Autokratie.

Demokratie? In Russland nur als Fassade

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