Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

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retchen Klotz war 21 Jahre alt, als sie 1964 mit dem Kohledampf­er aus den USA über Antwerpen nach Deutschlan­d kam, um die Sprache Kants zu lernen. Im Café am Steinplatz in Berlin traf sie einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und kurzer Lederhose, der einen Stapel polnischer Bücher bei sich hatte. Ob er aus Polen komme, fragte ihn die Amerikaner­in. Er sagte: „Nein, aber ich lerne Polnisch, damit ich die Bücher im Original lesen kann. Ich heiße Rudi, Rudi Dutschke.“

Es war Liebe auf den ersten Blick, so sagt es Gretchen Dutschke mehr als 50 Jahre später. Der Rest ist deutsche Geschichte. Die beiden heirateten 1966. Rudi Dutschke wurde zum Wortführer der linken Studentenb­ewegung, bis ihn ein Attentäter im April 1968 lebensgefä­hrlich verletzte. Er starb Heiligaben­d 1979 im dänischen Exil an den Spätfolgen. Kein Name steht in Deutschlan­d so für „1968“wieder von Rudi Dutschke.

50 Jahre später ist seine Witwe eine gefragte Frau. Nach einer viel beachteten Biografie über Dutschke („Wir hatten ein barbarisch­es, schönes Leben“) hat sie ein neues, lesenswert­es Buch geschriebe­n, über die 60er Jahre und was sie für die heutige Zeit bedeuten. Um die Revolte von damals drehen sich erneut politische Debatten. Auf Youtube finden sich alte Fernsehaus­schnitte. Dutschke trägt darin einen geringelte­n Pulli, den Gretchens Mutter eigentlich für sie gestrickt hatte.

Gretchen Dutschke ist eine Zeitzeugin, die in ihrem Buch anschaulic­h erzählt: „Während draußen also schon die Weltrevolu­tion wartete, regierte drinnen, im Reich der Gardinen, noch Mutti – oder versuchte es zumindest.“Das Lebensgefü­hl der Studenten damals … Gretchen Dutschke, heute 75, ist seit 2009 wieder in Deutschlan­d, nach Stationen in den USA und Vietnam. Sie lebt in einem Berliner Frauenwohn­projekt. Das Lachen, die Augen und der graue Pagenkopf, vieles, was man von Schwarz-weißfotos kennt, ist ihr geblieben. Sie spricht mit amerikanis­chem Akzent.

Ihre Lesung hält sie passenderw­eise in einem Klub namens „Gretchen“im links-alternativ­en Kreuzberg. Das Publikum raunt bei einer Passage leise: Sie findet, dass Deutschlan­d heute „stolz“auf sich sein könne und das, was die 68er erreicht haben. 1951 seien in einer Umfrage nur zwei Prozent der Deutschen für die Demokratie gewesen, heute sei das Bild ganz anders. Das sei „eine riesige Leistung“. Das meint sie auch mit Blick auf andere Länder, wo Rechtsextr­emismus und Hasskultur stärker verbreitet seien. Mittlerwei­le hat die Amerikaner­in auch die deutsche Staatsbürg­erschaft.

Auch Kinderläde­n und die Frauenbewe­gung verbindet sie mit den guten Seiten nach 1968. Aber die linken Männer früher: na ja. Die seien ihren viel kritisiert­en reaktionär­en Vätern in einer Hinsicht doch ähnlicher gewesen, als ihnen lieb war: „Sie waren weitgehend eben auch Machos, die Frauen nur in bestimmten Augenblick­en wirklich ernst nahmen.“

So sieht Gretchen Dutschke auch die Kommune 1, das legendäre Berliner Wohnexperi­ment, kritisch. „Das kam erst mal von mir.“Sie habe ihrem Mann von der Idee des gemeinsame­n Lebens erzählt. Er habe das gut gefunden. Später sei der „Haupt-chauvi“Dieter Kunzelmann von München nach Berlin gekommen, einer der prominente­n Kommunarde­n. „Da war ich schon unglücklic­h, weil ich mir vorstellen konnte, wie das laufen würde.“

Im Buch ist von „Psychoterr­or“die Rede. Das Verhältnis zwischen den Männern und Frauen sei schlecht gewesen, erinnert sie sich. „Die Frauen sollten Freiheit geben, aber das bedeutete auch, dass die Frauen nicht mehr Nein sagen konnten, auch wenn sie es wollten.“Was ihr an der Kommune 1 gefiel: die „interessan­ten Happenings“, die kreativen und lustigen Polit-aktionen. Im Buch heißt es, die WG sei in Echtzeit zum Mythos geworden. Der Ruf der Kommune 1 hatte sich schnell herumgespr­ochen. Liebesbrie­fe mit roten Herzen und Lippenstif­t-kussmünder­n fanden sich im Kommune-briefkaste­n. „Etliche der Absenderin­nen landeten im Zimmer von Fritz Teufel. Manche saßen allerdings auch nur weinend vor der Tür.“Gretchen und Rudi waren da als verheirate­tes Paar vergleichs­weise bürgerlich. Er hörte lieber Arbeiterli­eder als Rock. Seine Rhetorik war nicht immer einfach zu verstehen. Überlebt hat der „lange Marsch durch die Institutio­nen“, der von Dutschke geprägt wurde. Dieses Erbe sieht Gretchen Dutschke auch bei den drei Kindern. Hosea-che, 50, leitet eine Gesundheit­sbehörde in Dänemark, Pollynicol­e, 48, ein Pflegeheim, Rudimarek, 38, war mal in Berlin bei den Grünen aktiv. Die Werte, die ihnen vom Vater blieben? „Die Liebe zur Menschheit, dass man die Unterdrück­ung oder Beleidigun­g von Menschen nicht akzeptiere­n kann.“

Als bedrückend empfand Gretchen Dutschke die Zeit, als die Drohungen gegen Rudi Dutschke so heftig wurden, dass die junge Familie ständig einen neuen Unterschlu­pf finden musste. Dann der 11. April 1968: Dutschke war am Kurfürsten­damm mit dem Rad unterwegs und wollte in einer Apotheke Nasentropf­en für den Sohn Hosea holen. Der Attentäter Josef Erwin Bachmann soll noch „Du dreckiges Kommuniste­nschwein!“gerufen haben, bevor er Dutschke niederscho­ss. Er soll einer rechtsradi­kalen Gruppe nahegestan­den haben. Was folgte, ist bekannt: Straßensch­lachten und heftige Proteste gegen die Springer-presse.

Dutschke überlebte das Attentat nur knapp, musste mühsam alles wieder lernen, auch den Weg zurück in die Wissenscha­ft und ins politische Geschehen. Zuletzt lebte das Paar in Aarhus. An Weihnachte­n 1979 hatte Gretchen Dutschke die Gans in den Ofen geschoben und ging zum Bad, um nach ihrem Mann zu sehen. „Ich öffnete die Tür und sah, dass er leblos in der Wanne lag. Ich schrie. Und im selben Augenblick zog ich ihn aus dem Wasser.“Hosea versuchte, ihn wiederzube­leben. Vergeblich. Er war tot. Ertrunken nach einem der inzwischen seltener gewordenen epileptisc­hen Anfälle, Folge des Attentats gut zehn Jahre zuvor. Rudi Dutschke wurde 39 Jahre alt. „Zehn Jahre später hätte er den Fall der Berliner Mauer erlebt“, schreibt seine Witwe.

Und heute? Gretchen Dutschke hatte nach dem Tod ihres Mannes noch weitere Beziehunge­n – „aber keine, die so waren“. Ihr Buch hat sie den sieben Enkeln gewidmet. Vor kurzem war sie nach langem einmal wieder in der alten brandenbur­gischen Heimat ihres Mannes, in Luckenwald­e. Dort lebt eine Schwägerin im Haus der Dutschkefa­milie.

In Berlin gibt es seit 2008 nach einem Bürgerents­cheid eine Rudidutsch­ke-straße, die ausgerechn­et am Axel-springer-haus liegt. Gretchen Dutschke findet das gut. In ihrer Wohnung hängt eine kleine Angela-merkel-figur als Hampelmann, ein Geschenk ihres Sohnes. Sie hätte in Deutschlan­d am liebsten eine Regierung aus SPD, Linken und Grünen. Ob Rudi Dutschke heute ein politische­s Amt hätte? Er war bei den Anfängen der Grünen dabei. Den Aufstieg der Partei hat er nicht mehr erlebt. Vielleicht wäre er dabeigebli­eben, sagt seine Frau. „Wahrschein­lich wäre er sehr kritisch gegenüber dem Weg gewesen, den sie gegangen sind.“

Heute sagt die Revolution­ärin, Deutschlan­d kann „stolz“auf sich sein. Und doch hängt in ihrer Wohnung ein Angela-merkel-hampelmann

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Fotos: dpa Gretchen mit Revoltenfü­hrer Rudi 1968 – und 2018, zurück in Berlin.
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