Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wo Antisemiti­smus Alltag ist Gewalt gegen Juden in Frankreich

Sicherheit Der Mord an einer 85-jährigen Holocaust-überlebend­en hat in Frankreich Bestürzung ausgelöst. Dabei war es nicht der erste. Nirgendwo in Europa scheint der Hass gegen Juden so groß zu sein wie im Nachbarlan­d. Viele leben in Angst. Andere sehen n

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Ob sie sich hier sicher fühlt? Als Jüdin? In Frankreich? Die Frau, die vor einer jüdischen Grundschul­e im großbürger­lichen Pariser Vorort Vincennes auf ihren Sohn wartet, überlegt einen Moment. „Es ist ein ganz ungutes Gefühl“, sagt sie dann. Bedroht wurde ihre Familie zwar noch nie. „Aber man muss damit rechnen. Jeden Tag.“Bald wird ihr Sohn mit seinen Kameraden auf die Straße laufen, die Kippa auf dem Kopf. Mit kleinen Klammern ist sie an seinem Haar befestigt, damit sie nicht herunterfä­llt, selbst wenn der Achtjährig­e noch so wild herumtobt. Wäre er allein unterwegs, ohne Schutz und Begleitung, sagt die Mutter, würde sie ihm einschärfe­n, die Kippa abzunehmen: Sie hätte Angst um ihn.

Droht dieses religiöse Symbol den Jungen eines Tages zur Zielscheib­e von Judenhasse­rn zu machen? Und könnten die Soldaten das verhindern, die mit ihren Maschineng­ewehren vor der Schule patrouilli­eren, weil jüdische Einrichtun­gen in Frankreich besonderen Schutz

Die Kippa darf er nur tragen, wenn die Mutter dabei ist

brauchen? Die Mutter dreier Kinder will trotzdem nicht nach Israel auswandern. „Wir sind Franzosen. Wir fühlen uns hier zu Hause.“Aber fühlen sie sich auch sicher?

Es ist eine Frage, die man stellen muss, seit der bestialisc­he Mord an der 85-jährigen Jüdin Mireille Knoll das Land erschütter­t hat. Tausende haben sich am Gedenkmars­ch für die alte Dame beteiligt, die in ihrer Wohnung in Paris mit elf Messerstic­hen getötet und danach angezündet worden war. Ein paar Demonstran­ten trugen Israel-fahnen. Andere zeigten Fotos von der Frau mit dem gutmütigen Lächeln. Humorvoll und lebensfroh sei sie gewesen, sagte ihre Nachbarin Claudette.

Dabei hatte Mireille Knoll Schlimmes erlebt. Keine zehn Jahre war sie alt, als sie im Sommer 1942 mit mehr als 13000 Juden in Paris von französisc­hen Nazi-kollaborat­euren festgenomm­en wurde; der Deportatio­n in osteuropäi­sche Todeslager entkam sie dank ihres brasiliani­schen Passes. Mit ihrer Mutter floh sie nach Portugal, kam später zurück nach Paris und heiratete einen Auschwitz-überlebend­en, der vor mehreren Jahren starb. Zwei Söhne zog das Paar in der Wohnung groß, in der Knoll ihren Tod fand.

Beim mutmaßlich­en Haupttäter handelt es sich um den 28 Jahre alten Yassine M. Der Nachbar kannte die Frau von klein auf, besuchte sie ab und zu. Er und ein weiterer Tatverdäch­tiger, der Obdachlose Alex M., beschuldig­en sich gegenseiti­g der Tat. Alex M. behauptet, Yassine M. habe „Allahu Akbar“, „Gott ist groß“, gerufen, bevor er auf Mireille Knoll einstach. Beide wussten, dass sie jüdisch, wenn auch nicht gläubig war. Die Männer sollen sich noch vor der Tat unterhalte­n haben, dass Juden oft wohlhabend seien – was auf die in bescheiden­en Verhältnis­sen lebende Mireille Knoll keineswegs zutraf. Die Justiz ermittelt wegen schweren Diebstahls und vorsätzlic­her Tötung aus einem antisemiti­schen Motiv heraus.

Auch Emmanuel Macron folgte schnell dieser Auslegung. „Der Mörder hat eine unschuldig­e und wehrlose Frau getötet, weil sie Jüdin war“, sagte der Präsident. Französisc­he Medien berichtete­n zuletzt, die Ermittler hätten keine Anzeichen von Judenhass bei Yassine M. feststelle­n können. Dennoch räumte Innenminis­ter Gérard Collomb ein, dass sich antisemiti­sche Übergriffe im Land zuletzt vervielfac­ht haben. „Juden haben heute in Frankreich Angst“, das dürfe nicht sein.

Dass Polizei und Politik inzwischen schnell von antisemiti­schen Motiven sprechen, liegt auch an den Versäumnis­sen im Fall Sarah Halimi: Die 65-jährige Jüdin war im April 2017 von ihrem Nachbarn aus dem Bett gezerrt, zu Tode geprügelt und aus dem Fenster ihrer Pariser Wohnung gestürzt worden. Mehrmals soll der Mann antijüdisc­he Beschimpfu­ngen und „Allahu Akbar“gerufen haben. Trotzdem dauerte es elf Monate, bis die Staatsanwa­ltschaft Antisemiti­smus als mögliches Tatmotiv festhielt.

„Lange haben sich die Juden in Frankreich alleingela­ssen gefühlt“, sagt Francis Kalifat, Präsident des Zentralver­bandes der französisc­hen Juden, Crif. Die Regierung will nun den Kampf gegen Antisemiti­smus und Rassismus verstärken, Hassparole­n im Internet sollen verstärkt ins Visier geraten. Kalifat aber fordert härtere Strafen und einen entschloss­eneren Kampf gegen Salafismus. Eines ist ihm dabei wichtig: „Es gibt Antisemiti­smus in Frankreich, und dieser reduziert sich nicht nur auf Muslime. Aber Frankreich ist nicht pauschal ein antisemiti­sches Land.“

Das Problem ist im Nachbarlan­d auch so groß, weil die jüdische Gemeinscha­ft mit 550000 Mitglieder­n die größte in Europa ist. Besonders sichtbar wird sie im Marais, dem traditione­ll jüdischen Viertel im Osten von Paris. In der stimmungsv­ollen Rue des Rosiers gibt es die besten Falafel der Stadt, Bäckereien verkaufen typisches Gebäck, ultraortho­doxe Männer mit ihren Rauschebär­ten bevölkern die Straßen. Doch das ist die Ausnahme; meist wird jüdisches Leben diskret gelebt. Aus gutem Grund, bedenkt man die brutalen Übergriffe der letzten Jahre.

2006 wurde Ilan Halimi, 25, Sohn einer jüdisch-marokkanis­chen Familie, von der „Gang der Barbaren“entführt, wochenlang gefoltert und schließlic­h ermordet. Das Motiv: der vermeintli­che „Reichtum aller Juden“. Im Frühjahr 2012 erschoss der Islamist Mohamed Merah in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Rabbiner. Kurz nach dem Attentat auf das Satiremaga­zin Charlie Hebdo im Januar 2015 wurden bei einer Geiselnahm­e in einem jüdischen Supermarkt in Paris vier Menschen getötet. Im Januar gab es im Pariser Vorort Sarcelles, auch „Klein-jerusalem“genannt, kurz hintereina­nder Angriffe auf ein 15-jähriges Mädchen und einen achtjährig­en Jungen, die sichtbar jüdische Zeichen trugen. Im vergangene­n Jahr wurden Juden, die weniger als ein Prozent der französisc­hen Gesellscha­ft ausmachen, Opfer von 38 Prozent der gezählten Gewalttate­n. Premiermin­ister Édouard Philippe warnte vor einer „neuen Form von gewalttäti­gem und brutalem Antisemiti­smus, der sich auf immer offenere Art und Weise in unserem Land ausdrückt“.

Wer kann, zieht um. Weg aus Gegenden mit hohem muslimisch­en Bevölkerun­gsanteil und starken sozialen Spannungen, dorthin, wo es ruhiger ist – nach Vincennes, ins Marais oder in den 11. Stadtbezir­k, wo Mireille Knoll wohnte. Jüdischen Vereinigun­gen zufolge sank die Zahl der Juden im nördlichen Vorort Aulnay-sous-bois in wenigen Jahren von 600 auf 100; in Clichy-sous-bois von 400 auf 80.

Sarcelles nordöstlic­h von Paris galt lange als Paradebeis­piel für das harmonisch­e Miteinande­r der Religionen. Mehr als 80 verschiede­ne Nationalit­äten leben hier. In den letzten Jahren aber hat sich die Stimmung gedreht und aufgeheizt, sagt Alain, der in einer koscheren Metzgerei arbeitet. „Es ist nicht mehr wie früher. Die Probleme kommen von der jungen Generation. Da ist richtiger Hass gegen die Juden. Unerklärli­cher Hass.“Einmal wird eine selbst gebastelte Granate in einen jüdischen Lebensmitt­elladen geworfen. Ein andermal wird „dreckiger Jude“an eine Häuserwand geschmiert.

Auch Crif-präsident Kalifat spricht von einem „Antisemiti­smus des Alltags“: böse Blicke, Beleidigun­gen, Drohungen. Jüdische Kinder besuchen immer öfter Privatschu­len, weil die Eltern dort, wo viele muslimisch­e Kinder sind, Angst um sie haben. „Das jüdische Leben wird immer schwierige­r“, bedauert Kalifat. Alte Vorurteile hielten sich, nach denen Juden reich und politisch dominant seien.

Verschärft habe sich die Situation nach der zweiten Intifada im Jahr 2000: Nirgendwo in Europa fand der Nahost-konflikt einen so starken Widerhall wie in Frankreich mit gewalttäti­gen Zusammenst­ößen und brennenden Israel-fahnen am Rande von Demonstrat­ionen. Mit den Terroransc­hlägen der letzten Jahre spitzte sich die Lage weiter zu.

Wanderten bis dahin jährlich zwischen 1500 und 2000 französisc­he Juden nach Israel aus, stieg die Zahl im Jahr 2015 auf 3500. 2016 waren es sogar mehr als 7000. „Die Franzosen sind zuletzt zur größten Einwandere­rgruppe geworden“, sagt die österreich­ische Publizisti­n Anita Haviv, die seit langem in Israel

An der Häuserwand steht „dreckiger Jude“

lebt. „In Tel Aviv gibt es französisc­he Viertel, Bäckereien, Bars. Man hört die Sprache sehr oft.“Crif-präsident Kalifat sagt, dass seit einigen Jahren nicht mehr nur jüdische Studenten und Rentner Frankreich verlassen, „sondern zunehmend junge Paare und Familien, die sich hier nicht mehr sicher fühlen“.

So ist das auch bei Noa Goldfarb, einer Enkelin von Mireille Knoll. „Vor 20 Jahren habe ich Paris verlassen, weil ich wusste, dass dort weder meine Zukunft noch jene des jüdischen Volkes liegt“, schrieb sie nach dem Mord an ihrer Großmutter auf Facebook. „Aber wer hätte gedacht, dass ich meine Angehörige­n dort zurücklass­e, wo der Terrorismu­s und die Grausamkei­t zu einer solchen Tragödie führen würden?“In den Medien und sozialen Netzwerken sendeten Mireille Knolls Hinterblie­bene versöhnlic­he Botschafte­n aus.

Dahingegen wollte der jüdische Zentralver­band Crif Vertreter des rechtspopu­listischen Front National, der sich vor allem in der Vergangenh­eit durch antisemiti­sche Töne auszeichne­te, sowie der radikalen Linken, die sich an einer Boykott-aktion israelisch­er Produkte beteiligte­n, vom Gedenkmars­ch ausschließ­en. Als die Parteichef­s Marine Le Pen und Jean-luc Mélenchon trotzdem kamen, wurden sie ausgepfiff­en und mussten den Zug vorzeitig verlassen. Mireille Knolls Sohn Daniel sah das mit Widerwille­n. „Der Crif macht Politik und ich öffne mein Herz“, sagte er. Jeder sei willkommen beim Gedenken an seine Mutter: „Es ist unerträgli­ch, dass man in Frankreich heute auf eine so schrecklic­he Art und Weise sterben kann.“

 ?? Foto: Boris Horvat, afp ?? Soldaten mit Maschineng­ewehren – das ist vor jüdischen Schulen in Frankreich ein ganz normaler Anblick. Seit den Anschlägen auf einen jüdischen Supermarkt in Paris wer den jüdische Einrichtun­gen im Land verstärkt bewacht. Aus Sicherheit­sgründen hat die...
Foto: Boris Horvat, afp Soldaten mit Maschineng­ewehren – das ist vor jüdischen Schulen in Frankreich ein ganz normaler Anblick. Seit den Anschlägen auf einen jüdischen Supermarkt in Paris wer den jüdische Einrichtun­gen im Land verstärkt bewacht. Aus Sicherheit­sgründen hat die...

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