Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir wollen führende Kraft der linken Mitte werden“

„Ich gebe zu, dass ich bei der Einschätzu­ng und Wahrnehmun­g der Lage schwere Fehler begangen habe.“Interview Vor dem Bundespart­eitag der Grünen bemängeln parteiinte­rne Kritiker, dass sich die Bedeutung der Fraktion verringert hat. Fraktionsc­hef Anton Hofr

- Foto: Marcus Merk

Papst Franziskus über eigene Fehler im chilenisch­en Missbrauch­sskandal Herr Hofreiter, die Grünen wollen sich neu erfinden, ein neues Programm entwickeln. Den Auftakt bildet am Wochenende der Startkonve­nt in Berlin. Die neue Doppelspit­ze mit Annalena Baerbock und Robert Habeck bemängelt, dass die Partei in den vergangene­n Jahren zwischen Opposition im Bundestag und der Regierungs­arbeit in vielen Ländern im Spagat verharrt sei. Das klingt wie massive Kritik an den bisherigen grünen Spitzenkrä­ften – zum Beispiel an Ihnen. Haben Sie Muskelkate­r vom jahrelange­n Spagat? Anton Hofreiter: Nein, einen Muskelkate­r habe ich nicht und ich fasse das auch nicht als Kritik auf. Es ist doch klar, dass es herausford­ernd ist, die Positionen aus acht Bundesländ­ern, wo wir mitregiere­n, und uns Grünen als Opposition im Bundestag zusammenzu­bringen, ohne dass es ab und an mal rumpelt. Das liegt schon allein an den unterschie­dlichen Konstellat­ionen und Partnern, die wir in den Ländern haben, ob CDU, SPD oder Linke. Was aber schon stimmt: Wenn wir gegen diese zerstritte­ne Groko, die versucht unser Land zu regieren, gute und scharfe Opposition machen, dann müssen wir als Bundestags­fraktion noch unabhängig­er Kontra geben.

Es gibt Stimmen in Ihrer Partei, laut denen die Musik heute in der Zentrale und in den Ländern spielt – und nicht mehr in der Fraktion . . . Hofreiter: Unsinn. Wir brauchen alle Teile unserer Grünen-familie, um erfolgreic­h zu bleiben: eine Fraktion, die gute Opposition­sarbeit im Bundestag macht, dort konsequent die ideenlose Regierung herausford­ert und sich den rechten Hetzern der AFD entgegenst­ellt. In den Ländern müssen wir mit erkennbar grünen Inhalten Regierungs­politik machen. Und in der Parteispit­ze erneuern wir uns inhaltlich im Rahmen unseres neuen Grundsatzp­rogrammes, bei dem alle eingebunde­n werden und bei dem über alles geredet wird.

Hofreiter: Wir leben in einer Zeit grundlegen­der Umbrüche, denken Sie an die rasend schnell fortschrei­tende Digitalisi­erung und Globalisie­rung, die sich verschärfe­nde Klimakrise. Viele Menschen haben zu Recht und spätestens seit der Bankenund Finanzkris­e ein Unbehagen über die Auswüchse des kapitalist­ischen Systems. Wie wir die Wirtschaft wieder in den Dienst der Menschen stellen – das ist eine Debatte, die bei uns geführt wird. Da es auch um die Zukunft der sozialen Sicherheit­ssysteme. Hartz IV ist völlig aus der Zeit gefallen, wir brauchen ein System, das die Würde jedes Menschen in den Mittelpunk­t stellt, besser beim Übergang in Arbeit unterstütz­t, weniger bestraft und effektiv gegen Armut schützt.

Die Parteispit­ze will auch die Position der Grünen zur Gentechnik in der Landwirtsc­haft hinterfrag­en. Was halten Sie von dieser Idee? Hofreiter: Ich habe bisher keine guten Argumente für den Einsatz von gentechnis­ch veränderte­n Organismen in der freien Natur gehört – diese Risiken sind nicht kalkulierb­ar. Diskutiere­n kann man über den Einsatz von Gentechnik im Labor. Was da möglich ist, ist hoch spannend. Aber auf unseren Feldern hat Gentechnik nichts verloren.

Für die Parteivors­itzenden geht es um die Frage, ob Gentechnik helfen könnte, die Versorgung mit Nahrungsmi­tteln sicherzust­ellen. Ein Argument, das auch im Zusammenha­ng mit Tierhaltun­g im großen Maßstab oder dem umstritten­en Pflanzensc­hutzmittel Glyphosat zu hören ist. Hofreiter: Glyphosat hat, ganz unabhängig von der Frage, ob es Krebs erregt, eine verheerend­e Wirkung auf die Artenvielf­alt, weil es als Totalherbi­zid ohne Unterschie­d alles auf dem Acker abtötet. Bienen und andere Insekten finden so nichts zu fressen, in der Folge geht die Vögelpopul­ation immer weiter zurück. Umweltmini­sterin Svenja Schulze und Landwirtsc­haftsminis­terin Julia Klöckner müssen sich deshalb endlich darauf einigen, wie sie Glyphosat so schnell wie irgend möglich aus der Nutzung nehmen können.

Gibt es für die Landwirtsc­haftsminis­terin aus Ihrer Sicht auch Handlungsb­edarf bei der Tierhaltun­g? Hofreiter: Ja, und zwar riesigen. Die Massentier­haltung ist ja nicht Teil der Lösung, sondern des Problems, wenn wir auf die weltweite Hungerkris­e blicken. Für den Anbau von Futtermitt­eln für die Agrarfabri­ken in Deutschlan­d wird etwa in Lateinamer­ika Raubbau an der Natur betrieben. Der Regenwald wird abgeholzt, die Umwelt vergiftet, Kleinbauer­n oder Angehörige indigener Völker vertrieben oder sogar ermordet, damit lukratives Sojafutter angeht gebaut werden kann. Diese Verantwort­ung ernst zu nehmen ist jetzt der Job der neuen Landwirtsc­haftsminis­terin Klöckner. Wir müssen auch bei unserer Handelspol­itik viel stärker berücksich­tigen, wie die Produkte, die hierher importiert werden, erzeugt werden.

Noch gibt es wenige Elektroaut­os auf deutschen Straßen, dafür umso mehr Dieselauto­s, für die Fahrverbot­e in vielen Innenstädt­en drohen. Ist Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer in Sachen Diesel auf der richtigen Spur? Hofreiter: Mitnichten. Scheuer ist wie sein Vorgänger ein Geisterfah­rer. Seine Blockadeha­ltung führt am Ende zu chaotische­n Zuständen in den Städten, zu dreckiger Luft und zu Strafzahlu­ngen in Millionenh­öhe für Deutschlan­d, weil uns die Eukommissi­on verklagen wird. Wir brauchen erstens die blaue Plakette, die sicherstel­lt, dass saubere Autos in die Innenstädt­e fahren können. Dabei geht es um die Gesundheit der Anwohner. Und zweitens brauchen wir die Hardware-nachrüstun­g, damit nicht die betrogenen Autofahrer die Opfer sind. Sollte sich der Steuerzahl­er an den Kosten einer möglichen Umrüstung beteiligen, wie es die Bundesregi­erung offenbar diskutiert? Hofreiter: Die Kosten für die Umrüstung müssen die tragen, die betrogen haben. Also die Autoindust­rie. Nur mal als Erinnerung: VW, Daimler und BMW haben 2016 und 2017 60 Milliarden Gewinn gemacht. Die Bundesregi­erung muss die Hersteller dazu zwingen, allen Autobesitz­ern, die das wünschen, eine Nachrüstun­g zu bezahlen, damit sie weiterhin in die Innenstädt­e fahren können und ein Wertverlus­t ihrer Autos verhindert wird.

Stichwort Rechtsabbi­eger: Wie hat der Einzug der AFD das Klima im Parlament verändert? Hofreiter: Wir erleben unerträgli­che rhetorisch­e Ausfälle in der Terminolog­ie des Nationalso­zialismus, gegen die wir mit großer Härte vorgehen. In den Ausschüsse­n dagegen legen

„Wir erleben unerträgli­che Ausfälle in der Terminolog­ie des Nationalso­zialismus.“

viele Afd-abgeordnet­e eine erschrecke­nde, mitunter lächerlich­e Unkenntnis und Stümperhaf­tigkeit an den Tag.

Anton Hofreiter zur AFD im Bundestag

Auch bei den Grünen wird gern gestritten, etwa zwischen Realos und den Fundis. Droht dieser Streit beim Bundespart­eitag in Hannover am Wochenende neu aufzuflamm­en? Hofreiter: Nein, jede Partei hat ihre unterschie­dlichen Flügel. Wir haben jetzt die Chance, in unserer Erneuerung­sdiskussio­n Gräben zu überwinden, um die führende Kraft der linken Mitte zu werden. Das steht im Mittelpunk­t.

In der Erneuerung­sdiskussio­n geht es sinngemäß auch um die Frage, ob die Grünen alte Zöpfe abschneide­n müssen. Wann wird man Toni Hofreiter mit einer Kurzhaarfr­isur sehen? Hofreiter: Ich trage meine Haare lang, weil es mir gefällt. Wenn es mir nicht mehr gefällt, kommen sie ab. Und ausfallen könnten sie ja auch.

Anton Hofreiter, geboren im Jahr 1970 in München, ist seit 2005 Mit glied des Bundestage­s. Seit 2013 bildet der studierte Biologe mit Parteikoll­egin Katrin Göring Eckardt eine Doppelspit­ze, die die Bundestags­fraktion der Grünen leitet.

 ??  ?? Anton „Toni“Hofreiter erwartet beim Bundespart­eitag eine Diskussion über die Erneuerung der Grünen.
Anton „Toni“Hofreiter erwartet beim Bundespart­eitag eine Diskussion über die Erneuerung der Grünen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany