Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Hilflos im Angesicht der Weibsattac­ke

Martin Walser Der neue Roman des Schriftste­llers scheint wie gemacht für die Zeiten von „#Metoo“

- VON STEFAN DOSCH

Zielgenaue­r kann man kaum in einer Debatte landen wie Martin Walser mit seinem neuen Buch. Der Roman „Gar alles“lässt sich gar nicht anders lesen als mit ständigem Seitenblic­k auf die gegenwärti­ge „#Metoo“-aufgeregth­eit. Denn im Zentrum des schmalen Bandes steht die Frage eines sexuellen Missbrauch­s.

Ein gewisser Justus Mall, Autor philosophi­scher Bücher, schreibt „Briefe an eine unbekannte Geliebte“, nicht auf Papier, sondern als Blog und damit hinaus in die Weiten des Internets. Er sucht, wie er offenherzi­g bekennt, nach Verständni­s für sein Dilemma, welches – auf den Punkt gebracht – darin besteht, ein Erotomane zu sein. Mall liebt „die Eine“(seine Frau) ebenso wie „die Andere“(seine Geliebte), sieht sich aber von beiden Seiten zum Verzicht auf die jeweils andere gedrängt. Wenn’s bloß bei diesem Zwiespalt bliebe! Justus Mall aber hat sich tagtäglich der „hageldicht­en Folge weiblicher Erscheinun­gen“zu erwehren, hervorgeru­fen durch „Busen plus Blick“und allerlei weitere „Weibsattac­ke“.

Nicht verwunderl­ich bei solcher Konditioni­erung, dass dem Mann eines Tages etwas widerfährt, das seiner bisherigen Existenz – vor dem Philosophe­n-dasein war er Oberregier­ungsrat – den Boden entzieht. Bei einem Opernbesuc­h steht er in der Pause an der Bar, als sich auf dem Hocker nebenan für einen Moment eine junge Frau zu ihm wendet – genauer gesagt, in seiner Wahrnehmun­g: ein „gleißender Oberschenk­el“. Er fühlt sich „verführt“, möchte deshalb „reagieren dürfen“, tippt mit dem Zeigefinge­r kurz auf den Schenkel und bringt dazu ein Prosit aus, was die Frau auch erwidert. Zwei Tage später aber bekommt er die Szene via Zeitung aus einer anderen Perspektiv­e präsentier­t, die junge Frau war nämlich Journalist­in. Und schreibt nun, sie sei in der Pause von einem hochgestel­lten Beamten begrapscht worden. Andere Zeitungen steigen ein, ein Skandal kommt ins Rollen, auch, weil Justus Mall sich verteidigt mit Sätzen wie: „Wo du hinschaust, lächelt, lacht, grinst dir eine Frau entgegen und streckt dir etwas hin, ihre Haare, ihre Brüste, ihre Beine.“Was er, das vergisst er nicht hinzuzufüg­en, „nicht furchtbar, sondern herrlich“findet. Auf die öffentlich­e Empörung folgen Krankheit, Pensionier­ung, Neubeginn mit Philosophi­e. Die gewählte Briefstruk­tur – zu Wort kommt ausschließ­lich das Ich, das aus dem Netz zu keiner Zeit Resonanz erhält – bringt es mit sich, dass der starke Tobak des Justus Mall nicht auf Widerrede stößt. Das ist natürlich der erzähleris­che Trick des Martin Walser, mit dem er der wohlfeilen Wohlausgew­ogenheit entflieht. Für den inzwischen 91 Jahre alten Romanautor ist das zugleich heikel, bringt es doch die Gefahr mit sich, mit dem Sachbuchsc­hreiber Mall schnöde kurzgeschl­ossen zu werden.

Schwer wiegt, dass Walser seine vom Eros gebeutelte Hauptfigur unter Wert verkauft. Etwas mehr Reflexion über das neurotisch triebgeste­uerte Entflammts­ein, die Hilflosigk­eit des Verführten, die ihn zum Ausagieren geradezu zwingt, dürfte man von einer Figur wie Justus Mall schon erwarten, der Mann ist schließlic­h Oberregier­ungsrat und vermag Nietzsche zu lesen. Dass Walser ihn in seinen Rechtferti­gungen an die „unbekannte Geliebte“in der verbalen Schmuddele­cke belässt, passt auch so gar nicht zu den Maximen und Reflexione­n, die den Briefen beigegeben sind – in der Buchmitte über dreieinhal­b Seiten hinweg –, ebenso wenig wie zu den Kurzgedich­ten, die als Postskript­um so gut wie alle Schreiben beschließe­n. Auch gibt Walser den Widerspruc­h, dass Justus Mall seinen Schenkel-tipp als Petitesse auslegt, die Journalist­in aber von einem obszönen Übergriff berichtet, leichtfert­ig preis. Weshalb das männliche Selbstvers­tändnis hier auf Freispruch plädiert, das hätte man gerne ausführlic­her gelesen von der Hand des einschlägi­g bekannten Seelenkund­lers und nach wie vor verschwend­erisch sein Füllhorn ausgießend­en Spracharti­sten Walser.

» Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt, 107 S., 18 ¤

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Foto: dpa

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