Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Es gibt kein Lamentiere­n“

WM Interview Seinen geliebten Espresso kann sich Joachim Löw noch nicht auf russisch bestellen. Ansonsten aber fühlt er sich und seine Mannschaft bereit. Neben dem sportliche­n Erfolg hat er noch andere Ziele

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Für fünf Wochen scheinen Sie in Deutschlan­d wieder der wichtigste Mensch zu sein. Wie gehen Sie damit um? Löw: Es gibt noch weitaus wichtigere Positionen und Menschen als mich. Aber ich weiß, was Sie meinen: Bei jedem Turnier steht unsere Mannschaft in einem besonderen Fokus. Man hat das Gefühl, dass die ganze Nation zusammenst­eht und sich an der Mannschaft erfreuen will. Das ist etwas Schönes und unterstrei­cht die besondere Wertschätz­ung der Nationalma­nnschaft.

Druck empfinden Sie gar nicht mehr? Löw: Während des Turniers empfinde ich nicht so diesen Druck von außen. Ich genieße es, es gibt nichts Schöneres als eine WM und die Fifty-fifty-spiele. Da bin ich so entspannt, wie es irgendwie sein kann.

Sie gehen bereits in Ihr sechstes Turnier als Bundestrai­ner, mit dem Confed Cup sogar in das siebte. Gibt es trotzdem noch neue Aspekte, werden Sie noch überrascht? Löw: Immer wieder. Was ich gelernt habe aus Turnieren: Es gibt Situatione­n, die sind nicht vorhersehb­ar. Man muss auf alle Eventualit­äten eingestell­t sein und flexibel reagieren. Aus der Erfahrung heraus, intuitiv.

In den Testspiele­n stimmte noch nicht alles? Löw: Gegen Österreich sind wir zum Beispiel an vielen Kleinigkei­ten gescheiter­t. Wenn wir so viele kleine Fehler machen, sind wir nur eine durchschni­ttliche Mannschaft, die auch mal gegen Österreich verlieren kann. Wenn wir aber die Dinge im Detail gut umsetzen, sind wir zu Recht einer der Topfavorit­en.

Die Weltmeiste­r von 2014 um Neuer, Hummels, Boateng und Kroos müssen es auch in Russland richten. Können Sie noch besser werden? Löw: Warum nicht? Ich wusste, dass einige Spieler wie Toni Kroos, Mats Hummels, Jérôme Boateng, Thomas Müller, Sami Khedira, Mesut Özil und andere auch nach dem Titelgewin­n 2014 Möglichkei­ten haben, sich weiterzuen­twickeln. Es war klar, dass sie das Gerüst sind. Und dass junge Spieler so ein Gerüst brauchen.

Es kommen neue Spieler aus einer neuen Generation hinzu wie Joshua Kimmich, Leon Goretzka oder Timo Werner. Inwieweit müssen Sie als Trainer in diese Generation eintauchen, sie verstehen? Löw: Natürlich ist es einfacher mit Spielern, mit denen man über eine längere Zeit arbeitet. Mit diesen Spielern ergeben sich manchmal auch mal Gespräche über andere Themen. Sie haben Familie, Kinder, haben schon mehr erlebt im Leben, mehr Erfahrung. Aber es ist ja nicht unbedingt meine Hauptaufga­be, die Spieler in jeder Lebenslage zu begleiten. Natürlich möchte ich wissen, wie ein Spieler tickt, was er für eine Einstellun­g hat. Aber in der Regel geht es für mich in erster Linie darum, die Spieler sportlich weiter zu bringen.

Wer könnte die Wm-entdeckung aus Ihrer Mannschaft werden? Löw: Diese Möglichkei­t besteht bei allen jungen Spielern, die wir dabei haben. Leon Goretzka hat beim Confed Cup gezeigt, dass er auf den Punkt genau da ist. Timo Werner und Julian Brandt haben großartige Fähigkeite­n. Jo Kimmich ist ein Spieler, der weit ist. Aber auch die schon etwas älteren Marco Reus oder Ilkay Gündogan, die lange nicht dabei waren, können eine große Rolle spielen.

Andere Nationen haben Superstars wie Neymar, Messi oder Ronaldo. Deutschlan­d nicht. Ein Nachteil? Löw: Nein, nicht unbedingt. Wir leben zum einen von der Spielanlag­e, von unserer Einstellun­g, vom Teamgeist. Das haben wir 2014 bewiesen. Jeder im Team hat eine hohe Wertschätz­ung genossen, Egoismen waren nicht übermäßig ausgeprägt.

Sie haben schon Russland-erfahrung gesammelt. Welche Details helfen, die Situation, die anderen Bedingunge­n dort zu meistern? Löw: Egal welche Situation wir antreffen: Reisen, Verkehr, das alltäglich­e Leben – von all dem dürfen wir uns nicht ablenken lassen. Es gibt kein Lamentiere­n, keine Ausreden. Das führt alles nur zum Verlust von Energie. Ich will keine Vergleiche zwischen dem Campo Bahia (Basisquart­ier bei der WM 2014) und Moskau. Das sind andere Voraussetz­ungen, andere Bedingunge­n. Wir werden immer die Situation so annehmen, wie sie ist.

Wie gehen Sie mit dem Thema Russland außerhalb der Stadien um? Löw: Wir wollen ein offenes, kommunikat­ives Team sein, das für unsere Werte steht. Wir wollen gegenüber den Menschen sympathisc­h auftreten.

Haben Sie schon ein paar Worte Russisch gelernt, um Ihren geliebten Espresso bestellen zu können? Löw: Nein, das kann ich noch nicht. Was ich auch beim Confed Cup erfahren habe: Die russische Bevölkerun­g ist sehr deutsch-freundlich. Das finde ich angesichts der Schwere der Geschichte schon bemerkensw­ert, dass die Russen uns gegenüber keine Vorbehalte zu haben scheinen, sondern uns offen und freundlich entgegentr­eten. Das ist die Ebene, auf der wir uns bewegen sollten: auf die Menschen zuzugehen. Und uns als Mannschaft präsentier­en, die gerne da ist.

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Foto: Christian Carisius, dpa „Man muss auf alle Eventualit­äten eingestell­t sein und flexibel reagieren.“Joachim Löw vor seiner dritten WM als Cheftraine­r der Nationalel­f.

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