Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Russe fährt gerne Auto
Ob es das Wort „Feinstaubbelastung“auch im Russischen gibt, ist nicht bekannt. Übergeordnete Bedeutung wird der Kombination aus Umweltschutz und Mobilität jedenfalls nicht beigemessen. Der Russe fährt gerne Auto. Der Liter Sprit kostet umgerechnet rund 65 Cent, das kann sich der durchschnittliche Moskowiter gerade noch so leisten. Und weil sein Wille zur individuellen Auslegung der Straßenverkehrsordnung sehr ausgeprägt ist, gleicht der Verkehr jedem Tag einem Kunstwerk der experimentellen Gattung.
Der Liebe zum Fahren steht eine Unbill gegenüber sorgsamen Umgang des Untersatzes gegenüber. Wenn das Auto dem Deutschen sein liebstes Kind ist, so ist es des Russen Prostituierte: Mittel zum Zweck. Neben dem vorrangigen Ziel, eine Entfernung zwischen zwei Punkten zurückzulegen, dient der Wagen auch dem eigenen Druckabbau. Die Lärmkulisse lässt vermuten, dass sämtliche Verkehrsteilnehmer mit dem Kopf auf der Hupe vom Schlaf übermannt wurden, doch eine empirische Betrachtung hat wütend drückende Hände als Auslöser der Permanentbeschallung zutage gefördert. Da die Straßenführung es mitunter vorsieht, innerhalb von 30 Metern vier Spuren zu überqueren, ist kaum eine Karosserie noch nicht verwundet. Kratzer und Dellen weisen die Ladas als Opfer ihrer Fahrer aus.
Dem wiederum ist es offenbar gestattet, das Lenkrad auch auf der rechten Seite anbringen zu lassen. Sagt jedenfalls jener Taxifahrer Sotschis, der sich mit John ansprechen lässt, da mitteleuropäischen Stimmbänder seinem wirklichen Namen nicht gewachsen sind. Er sitzt auf der rechten Seite. Warum? „War meine Entscheidung.“Offenbar fiel der eigenwilligen Gestaltung seines Vehikels andere Sonderausstattung zum Opfer. Den klimatischen Bedingungen am Schwarzen Meer kann er jedenfalls nicht in Form einer Klimaanlage Rechnung tragen. Da auch die wenigsten Autos Moskaus mit derartigem Schnickschnack ausgestattet sind, gilt die Manta-pose als gängigste Inszenierung eigener Lässigkeit: Fenster runter, Ellbogen raus. Und weil die deutschen Journalisten sehr anpassungsfähig sind, haben sie diese Eigenart bereits angenommen.
Dazu noch ein Lada, der seine besten Tage wohl unter Jelzin hatte (von der Autovermietung aber scherzhafterweise auf eine Laufleistung von 35000 Kilometern frisiert wurde), werden sie als ernsthafter Kombattant ernstgenommen und munter angehupt. Einziges Problem: Das eigene Signalhorn funktioniert nicht.