Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Meine Vorfahren, die Henker

Porträt Ahnenforsc­hung ist beliebt wie nie. Das ZDF widmet dem Thema nun eine eigene Show. Darin spielt auch die Familie von Sabine Scheller eine Rolle. Sie hat schon vor Jahrzehnte­n angefangen, nach ihren Wurzeln zu suchen. Und ist auf eine aufregende Ge

- VON ANDREAS FREI Fotos: Ulrich Wagner

Oettingen Treffpunkt: Richtschwe­rt. Sabine Scheller hätte die behutsame Variante wählen und das wichtigste Beweismitt­el für das blutige Kapitel in ihrer Familienge­schichte ans Ende der kleinen Führung setzen können. Aber warum zimperlich sein? Wenn das Ding schon im Heimatmuse­um hängt. Also ein paar Treppen hoch, ein paar Schritte noch und – tadaaa: das Scheller-schwert. Silbern glänzend, effektvoll hinter Glas in Szene gesetzt, gleich neben dem Folterwerk­zeug, den Beinschrau­ben. Ahnenforsc­hung, das ist Stammbaum, Kirchenbuc­h und Wappen. Kann aber auch Richtschwe­rt sein. Wenn die Vorfahren Henker waren.

Sabine Scheller, 57, Kinderkran­kenschwest­er, kurze Haare, rahmenlose Brille, gemusterte­s Sommerklei­d, ist an diesem Nachmittag eigens von ihrem Wohnort Kempten nach Oettingen ins Ries gefahren, um ihre Geschichte zu erzählen. 180 Kilometer. Sie macht darum nicht viel Aufhebens. Scheller erkundet seit mehr als drei Jahrzehnte­n die Vergangenh­eit ihrer Familie, da sind weiß Gott weit mehr als 180 Kilometer draufgegan­gen.

Das kennen alle, die die Ahnenforsc­hung für sich entdeckt haben. Und es werden immer mehr. Das Hobby erfährt eine nie da gewesene Blüte. Ist es die neue Lust auf Familie? Wiederentd­eckte Heimatverb­undenheit? Eine Antwort auf das Monstrum Globalisie­rung?

Vielleicht von allem ein wenig. Jedenfalls will auch das Fernsehen davon profitiere­n. Das dreht derzeit mehrere Folgen für die neue Sonntags-show „Du ahnst es nicht!“, die im Herbst gezeigt werden soll. Eine Sendung voll mit Ahnengesch­ichten. Moderator – das konnte nun wirklich niemand ahnen – ist Ex-modern-talking-sänger Thomas Anders. Die Familie Scheller aus Oettingen wird auch eine Rolle spielen.

Womöglich auch das Richtschwe­rt. Wenn das Ding – mindestens 250 Jahre alt, Genaues weiß man nicht – schon mal im Heimatmuse­um hängt. Es war lange in Familienbe­sitz. Bis ihr Großvater es in einer Silvestern­acht „in nicht mehr ganz nüchternem Zustand“dem Museum vermachte, erzählt Sabine Scheller. Wie viele Menschen wohl nach Gebrauch – blöder Scherz – einen Kopf kürzer waren? Achselzu-

Das alles hat was von einer Wundertüte

cken. „Wenn ich das wüsste“, antwortet sie. Dokumentie­rt ist das nicht. Man weiß nur, was die Delinquent­en alles ausgefress­en hatten. Natürlich war Mord dabei, aber auch Ehebruch, Diebstahl, ja sogar auf Sex mit Tieren stand die Höchststra­fe.

Ahnenforsc­hung hat was von einer Wundertüte. Da fängt man halt an, im Fall von Sabine Scheller mit Anfang 20, beflügelt von Erzählunge­n einer Großtante einige Jahre zuvor. Stöbert Stunden, Tage, Wochen in Archiven. Macht Fortschrit­te mal in Formel-1-geschwindi­gkeit, mal im Zeitlupent­empo. Endlose Ketten von Namen, Berufen und Geburtsdat­en. Stößt auf dies und das, auf ein paar Lehrer, eine bäuerliche Linie, auf Pfarrer und einen Missionar in Indien. Liest dann irgendwann das Wort: Scharfrich­ter-witwe. Und es beginnt, richtig spannend zu werden.

Scharfrich­ter – so blutig und gruselig das alles klingt, was man mit dem Begriff verbindet, man kann sich seiner Faszinatio­n dann doch nicht entziehen. Scheller sagt: „So grausam die Zeit auch war, mich gruselt es nicht, wenn ich Geschichte­n darüber lese.“Zumal zum Beruf Scharfrich­ter mehr gehörte, als man gemeinhin annimmt. „Kommen Sie mit“, sagt sie, „fahren wir dorthin, wo alles anfing.“

Mit den Scharfrich­tern war das so, beginnt sie zu erzählen, als sie ihren Wagen durch die engen Gassen Oettingens steuert. Es war ein Lehrberuf mit Meisterprü­fung. Da er als „unehrlich“galt und die Söhne von Scharfrich­tern kaum Chancen hatten, einen anderen Job zu ergreifen, lernte der Lehrling das Handwerk meist beim Vater und danach bei einem anderen Verwandten. So entstanden ganze Dynastien.

Erstmals erwähnt wurde „der mit der Schärfe des Schwertes Richtende“im Jahr 1276 – im Stadtbuch von Augsburg. Später nannte man ihn auch Henker oder Nachrichte­r. Einer, zu dessen Aufgaben „peinliche Befragunge­n“(auf gut Deutsch Folter), Bestrafung­en und eben Hinrichtun­gen gehörten, wie man gerade im Heimatmuse­um auf einer Erklärtafe­l lesen konnte.

Nach fünf Minuten Fahrt kommt Schellers Mercedes im Innenhof eines gepflegten, in Grün und Weiß gestrichen­en Anwesens zum Stehen. Das ist also der Scheller-hof. Hier zog 1765 Johann Michael Scheller ein, Sohn eines Scharfrich­ters aus Ingolstadt, nachdem er die Zusage für die freie Stelle als Oettinger Scharfrich­ter erhalten hatte. Hier wohnte auch Sohn Alois, eines von 15 Kindern. Er wurde später Nachfolger von Johann Michael – der letzte seines Fachs oben im Ries.

Bis heute ist der Hof in Familienbe­sitz. Alois Friedel, 67, Getränkehä­ndler, kariertes Hemd, Jeans und Schnauzbar­t, ist Sohn der SchellerNa­chfahrin Anneliese. Ein Mann mit Humor, wie er gleich unter Beweis stellt. „Was ich heute noch Knochen finde auf dem Hof“, fängt er an. „Egal, wo man buddelt.“

Knochen? Kopfkino. Das werden doch nicht … „Tierknoche­n“, schickt er mit einem Schmunzeln hinterher. „Das liegt daran“, springt ihm Cousine Sabine zur Seite, „dass der Scharfrich­ter nicht nur Todesurtei­le gegen Menschen vollstreck­t hat.“Die Scheller-scharfrich­ter waren zugleich auch Wasenmeist­er, das heißt, für die Beseitigun­g von Tierkörper­n zuständig. Sie zogen beispielsw­eise Häute ab, die an Gerbereien gingen. Weil sie sich eh schon so gut mit Tieren auskannten, versorgten sie auch die Hunde und Pferde des Fürsten. Und dann setzt Sabine Scheller noch eins obendrauf.

Scharfrich­ter waren diejenigen, die Straftäter folterten – es musste ja ein Geständnis „erwirkt“werden, nur dann war eine Verurteilu­ng möglich. Folter aber nur bis zu einer gewissen Schwelle. Dann pflegten sie die Wunden der Delinquent­en – um diese schließlic­h wieder zu foltern. So erwarben sie erstaunlic­he medizinisc­he Kenntnisse. „Vielleicht“, sagt Scheller, „ist es ein Stück weit auch das, was mich an der Scharfrich­ter-geschichte fasziniert.“Sie ist ja selbst in der Medizin zu Hause, als Krankensch­wester im Klinikum Kempten.

Das ist doch das Spannende, sagt Manfred Wegele, so etwas wie Mr. Ahnenforsc­hung in Bayern. „Dass man immer wieder auf neue Zusammenhä­nge stößt.“Der 68-Jährige aus Tapfheim bei Donauwörth leitet den Bayerische­n Landesvere­in für Familienku­nde und ist auch dessen Schwaben-chef. Seine eigene Familienge­schichte ist voller überrasche­nder Verbindung­en. Sein Urgroßvate­r war Onkel des Mädchenmör­ders Jakob Wegele, der 1898 in Augsburg enthauptet wurde. Da ist die Story mit Rudolf Diesel, dem Erfinder des Dieselmoto­rs. Die Urgroßelte­rn seines Urgroßvate­rs waren auch Wegeles Vorfahren. Und dann musste Mr. Ahnenforsc­hung nur lange genug suchen, um eine gemeinsame Linie mit Sabine Scheller zu finden, irgendwann vor ein paar hundert Jahren.

„Man wird nie fertig“, sagt Wegele. Trotzdem fangen so viele Menschen mit dem Hobby an. Und schließen sich zusammen. Jahr für Jahr wächst die Bezirksgru­ppe um etwa 25 Leute. Derzeit sind rund 450 in der Region organisier­t. Solche Familienfo­rscher tüfteln nicht im stillen Kämmerlein. Sie vernetzen sich, der digitalen Welt sei Dank, via E-mail oder Facebook und tauschen sich bei regelmäßig­en Treffen aus, die mancherort­s themengere­cht „Stammbaumt­isch“heißen.

Sabine Scheller fand irgendwann heraus, dass die Exekution mit dem Schwert unten auf dem Richtplatz an der Wörnitz nicht die einzige Methode war, derer sich die Scharfrich­ter bedienten. Also noch einmal ins Auto, auf einer schmalen Straße vorbei an der Oettinger Brauerei, durch eine wunderschö­ne Allee hinauf auf eine kleine Anhöhe. „Hier“, sagt sie und stoppt auf einem Parkplatz. „Wo jetzt das Feldkreuz ist, stand früher der Galgen.“

Der Galgen also auch noch. Von allen Seiten einsehbar. Je nach De-

Wo heute ein Feldkreuz ist, stand früher der Galgen

likt kam der Verurteilt­e hierher oder runter auf den Richtplatz. Ob das Holzkreuz an dieser Stelle Zufall ist? „Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortet Scheller.

Anfang des 19. Jahrhunder­ts war die Oettinger Scharfrich­ter-geschichte dann vorbei. Die Folter wurde abgeschaff­t, 1843 gab es auf heutigem bayerische­n Boden nur noch wenige diensthabe­nde Henker. Darunter zwei mit Namen Scheller. Auch die Ausbildung änderte sich. Scharfrich­ter war kein Lehrberuf mehr, man wurde nur noch angelernt. Dadurch sank – so zynisch das klingt – die Qualität der Arbeit. Sabine Scheller fand heraus, dass dem Amberger Henker Lorenz Scheller 1852 eine Hinrichtun­g derart misslang, dass er von der Menge beinahe gelyncht worden wäre. Die Obrigkeit reagierte schließlic­h mit der Einführung der Guillotine.

Hier am Feldkreuz endet also alles, wenn man so will. Letztes Kapitel, Geschichts­buch zu? „Oh nein“, sagt Sabine Scheller. „Es gibt noch so viele offene Baustellen.“Die Ahnenforsc­hung ist ihr Ausgleich zur Arbeit, sie lebt allein, steckt die ganze Freizeit ins Hobby. Ein Projekt nach dem anderen: Die Schäfer mütterlich­erseits, die aus Frankreich kommen sollen. Sie dokumentie­rt Friedhöfe in der Region, ein Mordsaufwa­nd. Das Ortsfamili­enbuch von Belzheim unweit von Oettingen, das sie bald fertigstel­len will. Wer weiß, vielleicht reist sie mal wieder zum „Scharfrich­ter-nachfahren­treffen“. Das gibt es wirklich. Und was ist, wenn in der ZDF

Sendung noch was ausgegrabe­n wird, von dem sie bislang nichts wusste? Tobias, Sohn von Alois Friedel, wird sich dort von Experten aufklären lassen. Wenn es etwas aufzukläre­n gibt. Die Redaktion hat sich schon Schellers Forschungs­ergebnisse schicken lassen.

Wenn sie mal in Rente geht, erzählt sie noch, will sie wieder in Oettingen wohnen. Die offenen Baustellen … „Ach, übrigens“, sagt sie, als hätte sie etwas vergessen. „Wo der Galgen stand, ein paar Meter dahinter …“Anderthalb Stunden hat sie in einer Tour von Hinrichtun­gen und Leichen und Richtschwe­rtern erzählt, immer wieder verschmitz­t gelächelt, als wollte sie im Gesicht ihres Gegenübers erkunden, welche Wirkung die gruseligen Geschichte­n entfalten. Nun zum Abschluss sagt sie doch glatt: „Ein paar Meter dahinter ist heute ein Grillplatz.“

Ahnenforsc­her haben offenbar einen guten Humor.

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Sabine Scheller vor dem Schaukaste­n im Heimatmuse­um, der an die Scharfrich­ter vergangenh­eit ihrer Familie in Oettingen erinnert. Das obere der beiden Schwerter war das Richtschwe­rt.
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An diesem Ort am Rande Oettingens stand einst der Galgen.
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Alois Friedel, Cousin von Sabine Schel ler, auf dem Scheller hof.

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