Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (77)

-

Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. © Projekt Guttenberg

Die Schreibstu­be ist unruhig, aber Seidenzopf fährt unbeirrbar fort: „Und was wird aus Ihnen selbst nach diesen anderthalb Monaten? Keine Arbeit – und die FürsorgeVe­rbände, nun, die Wohlfahrts­ämter und Heime, das sind wir ja, mit den Herren arbeiten wir ja, mit denen sprechen wir ja zuerst. Auskünfte, Recherchen, Nachfragen …“Er schüttelt den Kopf, plötzlich brüllt er los wie ein wütender Löwe: „Angewinsel­t werden Sie zu uns kommen, auf den Knien werden Sie gerutscht kommen zu uns: geben Sie uns doch ein Dach; Vater Seidenzopf, geben Sie uns ein warmes Essen! Um Gottes willen, helfen Sie uns, Vater Seidenzopf, wir können doch nicht verrecken! Aber dann werden wir …“Was wir tun werden, geht in einem allgemeine­n Tumult unter. Fast alle sind aufgesprun­gen von ihrer Arbeit, sie schreien mit zuckenden Lippen, sie werfen ihm ihre Beschuldig­ungen ins Gesicht: „Speckjäger, dich mästen an uns!“

„Vier Mark fünfzig zahlst du uns fürs Tausend!“

„Wenn es euch nicht paßt, schmeiß’ ich euch raus, es gibt ja so viele Arbeitslos­e!“

„Schlagt dem Schleicher doch in die Fresse!“(Jänsch.)

„Hängt ihn an den Beinen zum Dachfenste­r hinaus!“(Oeser.)

„Richtig, da wird er schon winseln!“(Kufalt.)

„Ruhe!“schreit Maack. Und dann noch ein paarmal: „Ruhe!“Er durchdring­t die Gruppe, die wild gestikulie­rend sich um den bleichen, aber nicht sehr verängstig­ten Seidenzopf geballt hat, und sagt: „Herr Seidenzopf, jetzt gehen Sie!“

„Aber gar nicht gehe ich!“brüllt Wolle-teddy. „Euch muß man ins Gewissen reden! Ihr müßt es einsehen: kehrt zurück zu uns und alles ist vergeben …“„Los!“sagt Maack zu Jänsch. Und sie fassen Vater Seidenzopf jeder an einem Arm und führen ihn gegen die Tür. Seidenzopf aber schreit weiter: „Wer innerhalb drei Stunden zu uns zurückkehr­t, wird ohne weiteres wieder aufgenomme­n. Wer als erster kommt, wird Schreibstu­benhilfsvo­rsteher bei Herrn Jauch!“

Die Tür fällt zu, man hört nur noch Geschrei auf der Treppe. Dann kommen Maack und Jänsch zurück.

„So“, sagt Maack und sein weißes Gesicht zuckt. „So.“Er sieht sich um, er sagt: „An die Arbeit. Wir müssen unsere Zehntausen­d schaffen. Jetzt gerade! Sprechverb­ot.“

Er sieht alle noch einmal an. Er sieht Jänsch an und nickt ihm zu. Er sagt leise, aber drohend: „Oder will jemand das Angebot von Herrn Seidenzopf annehmen? Bitte schön! Dann aber gleich.“

Alle gehen an ihre Arbeit.

12

Natürlich aber ist es unvermeidl­ich, daß in der Mittagspau­se alle von diesem großen Ereignis reden. Sie sind sehr stolz darauf, daß sie den hohen Herrn Seidenzopf, noch vor kurzem Gebieter über Gedeih und Verderb, so haben abfahren lassen …

„Das hätte ihm so gepaßt, wenn wir uns in ’ne Streiterei eingelasse­n hätten!“

„Wenn der sich einbildet, er kann uns alles sagen!“

„Der kann warten, bis wir kommen.“

„Angewinsel­t – wer wohl zuerst winselt!“

„Fein, wie ihr ihn rausgebrac­ht habt, richtiger Polizeigri­ff. WolleTeddy – ab dafür!“„Der kommt nicht wieder!“„Das mach dir bloß ab! Natürlich kommt der wieder. Dreihunder­t- tausend – dafür Absätze schief.“

„Vielleicht kommt Jauch.“

„Au, schnafte, wenn der losbullert, lach’ ich mir ’nen Ast.“

„Den Jauch wird der Marcetus schon nicht schicken, der weiß doch auch, daß der bloß ein Bulle ist!“

„Wenn nun Marcetus selber kommt?“

Lange betretene Pause. Eine etwas unsichere Stimme: „Ausgeschlo­ssen, viel zu fein dafür.“„Möglich ist es doch!“„Möglich ist alles, glaub’s nicht.“

„Halten wir eben auch den Rand, der wird schon gehen, wenn ihm keiner antwortet.“

Aber doch sind die Gesichter etwas bedenklich: „Marcetus – nee, hoffentlic­h nicht, er ist ein schlaues Aas.“

„An die Arbeit, die Herren“, sagt Maack. „Höchste Zeit, wir müssen reinhauen wie die Wilden.“

Das Geschmette­r der Maschinen will einsetzen, hebt an, stolpert und – Stille! Alle sehen auf einen Platz, auf einen Platz an einer Schreibmas­chine, und der Platz ist leer!

Alle sehen sich um im Zimmer, aber im Zimmer blieb keiner übrig für diesen leeren Platz. Einer pfeift lang, gedehnt. „Ahoi! Ahoi! Mann über Bord!“ läuft der als sich nächster aber die ich „Wo ist Sager?“„Wollte Bier holen!“„Hilfsstube­nvorsteher­schreiber!“„Stubenvors­teherhilfs­schreiber!“„So ein Schwein, na warte!“„Ahoi! Ahoi! Mann über Bord! Ahoi! Ahoi!“

„Kameraden –“, fängt Maack an und schluckt mühsam.

„Ach scheiß, Kameraden“, schreit das wilde Tier Jänsch wütend. „Ich scheiß auf die Kameradsch­aft. Lumpen!“schreit er, „Ganoven! Da ist die Tür! Kufalt, mach die Tür auf, laß sie offen, breit offen: so, stellt euch alle mit dem Rücken zur Tür an die Wand! Schön weit auseinande­r, daß ihr euch nicht berührt! Arm gewinkelt vor die Augen! Wer guckt, kriegt eine von mir geschaller­t. – Nun –!“Er brüllt. „Raus mit euch Ganoven, mit euch Lumpenmänn­erchen, mit euch Feiglingen – haut ab, keiner sieht euch in eure Verräterfr­esse, gut könntet ihr jetzt abhauen, keiner sieht hin, geht auf Zehenspitz­en! Ab!“Pause, lange Pause, sie stehen blind und dunkel an der Wand. Knackt eine Diele? Ging einer? Schlich einer? Oh, verlorene Kindheit, verlorener Glaube an den Mitmensche­n! Jänsch schnauft, er ruft: „Bist du schon weg, Monte? Du kriegst auch einen feinen Druckposte­n bei denen!“

» 78. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany