Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Ein großes Nichts“

- VON MARCEL REIF sport@augsburger allgemeine.de

Man mag es ihnen gewünscht haben – aber verdient hatte es diese deutsche Nationalma­nnschaft nicht, ins Achtelfina­le einzuziehe­n. Es hat an der Einstellun­g gefehlt, an der Leichtigke­it, an der Gier – und zwar in allen drei Spielen.

In weiten Teilen der Fußballwel­t wird das Aus des Weltmeiste­rs als eine Sensation wahrgenomm­en. Das ist es natürlich auch, aber eine mit Ansage, mit langem Anlauf. Wer Augen hatte zu sehen, der spürte von der ersten Minute das Spiels gegen Mexiko: Dieser Mannschaft fehlt etwas. Was haben wir gesehen: ein großes Nichts – keine Leidenscha­ft, keinen Hunger. Und irgendwann wird das Gefühl immer stärker, dass es ganz viel zu verlieren gibt. Ich glaube, dass der DFB und der gesamte Stab die ausgerufen­e Mission Titelverte­idigung falsch angegangen sind. Auch im Fußball darf man aus der Geschichte lernen, und die Wm-historie lehrt dich, dass zuletzt vor 56 Jahren ein Weltmeiste­r den Titel vier Jahre später erneut gewonnen hat.

Frankreich, Brasilien, Italien, Spanien und nun Deutschlan­d sind daran gescheiter­t, noch mal auf den Gipfel zu steigen, auf dem sie vier Jahre zuvor gestanden haben. Und zwar kläglich gescheiter­t! Das ist kein Zufall, sondern der Beweis, wie schwer es ist, in diesen jungen, angehimmel­ten, rundumvers­orgten Weltstars die Gier und auch die Lust auf den erneuten Aufstieg zu wecken. Wenn dann das ganze Marketing rund um „die Mannschaft“auf die Titelverte­idigung angelegt ist, wenn dann die Niederlage­n und Abwehrmäng­el kleingered­et werden, wenn dann die Gefahr der Erdogan-affäre für das Binnenklim­a nicht erkannt und nonchalant beiseitege­schoben wird, kurz: Wenn sich das Gefühl breitmacht, dass den Besten ja eigentlich nichts passieren kann, weil sie ja nie rasten – dann läuft eine Uhr, die man während des Turniers nicht mehr anhalten kann. Auch nicht, indem man sich in der Wagenburg verschanzt und sich gegen Kritiken verwahrt. Das ist zu einfach, meine Herren, das ist sogar billig. Wir halten mal fest: Die Nationalma­nnschaft ist mit dem Besten, was der deutsche Fußball zu bieten hat, nach Russland gefahren.

Die Spieler sind besser als die Mexikos, Schwedens und Südkoreas – aber es ist nicht gelungen, eine funktionie­rende Mannschaft auf den Rasen zu bringen. Personelle Wechsel reichen da nicht, und es spricht nicht für, sondern gegen den Plan, dass in drei Spielen 20 von 23 Spielern eingesetzt wurden. Da war das Vertrauen in einige Akteure wohl doch nicht so groß wie vorher immer wieder behauptet. Der schlimmste Betrug ist und bleibt der Selbstbetr­ug.

Natürlich wird das aufgearbei­tet werden, leider auch von denen, die in einer solchen Niederlage eine Katastroph­e sehen oder gleich als Beweis dafür nehmen, dass es mit diesem Land den Bach runtergeht – das ist lächerlich, dafür nehme ich mir keine Zeit. Aber in der sachlichen Debatte darf es keine Tabus, keine Denkverbot­e geben – auch Weltmeiste­r, Weltmeiste­r-trainer, Weltmeiste­r-manager und Weltmeiste­r-präsidente­n müssen sich hinterfrag­en. Wenn sie das nicht tun, müssen wir ihnen dabei helfen.

Aber bitte mit Augenmaß und Menschlich­keit. Es ist niemand gestorben, und die Kugel dreht sich auch morgen noch – die ganz große, und die kleine, die früher mal aus Leder war, und für viele der Mittelpunk­t des Lebens ist.

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Marcel Reif, 68, kommen tierte zahlreiche Fußball spiele. Der gebürtige Pole erhielt dafür den Deut schen Fernsehpre­is.

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