Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

50 Jahre Rocker

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Anderson: Wie ich bereits sagte: Es gibt Menschen, die machen ihre Arbeit länger als andere. In der Welt der Kunst und Unterhaltu­ng kann man mit etwas Glück bis ins hohe Alter tätig sein. Alter, Leiden, Schwäche, Geisteskra­nkheit, Demenz – all diese Dinge werden passieren. Wenn es bei mir so weit ist, hoffe ich, dass mir jemand ins Ohr flüstert: „Lerne, Golf zu spielen!“

Gibt es auch Dinge, die Sie mit 70 besser können als mit 25? Anderson: Jeder Künstler wird diese Frage mit Ja beantworte­n, denn es ist wichtig, daran zu glauben, dass du deinen besten Song noch nicht geschriebe­n hast. Natürlich ist das in der Realität nicht immer der Fall. Beethoven hat seine beste Sinfonie zwar sehr spät in seinem Leben geschriebe­n, aber zu dem Zeitpunkt war er erst 54 Jahre alt. Mozart war noch viel jünger, als sein Leben zu Ende ging. Anderersei­ts hat John Lee Hocker mit 83 noch einen Grammy bekommen. Aber das sind Ausnahmen. Der exzessive Lebensstil in der Welt des Rock’n’roll und des Jazz fordert seinen Tribut. Der arme Pavarotti zum Beispiel hat sich zu Tode gefressen. Zuletzt konnte er gar nicht mehr singen. Solchen körperlich­en Verfall mit ansehen zu müssen, ist sehr traurig. Für mich ist jeder neue, gesunde Tag wie ein Geschenk!

Sind Sie heute noch so fit, weil Sie nie das Klischee-leben mit Sex, Drugs and Rock ‘n’ Roll ausgekoste­t haben? Anderson: Also, ich hatte schon immer ein ziemlich geordnetes Leben, weil ich durch und durch Profi bin. Wenn ich nicht auf Tour bin, gehe ich um 19 Uhr schlafen und stehe am nächsten Morgen um sechs auf. Auf Tour gehe ich ein bisschen später ins Bett, aber ich wache trotzdem um sechs auf, weil wir ja zur nächsten Stadt weiterreis­en müssen. In Russland mussten wir einmal um vier Uhr morgens starten. Bereits um fünf vor vier saßen alle von uns mit gepackten Koffern im Bus. Das Leben ist leichter, wenn man pünktlich ist und sich an Regeln hält. Wir haben noch nie ein Flugzeug oder einen Zug verpasst.

Sie waren wirklich kein einziges Mal in Ihrer 50-jährigen Karriere unpünktlic­h? Anderson: Okay, ich habe ein einziges Mal ein Flugzeug verpasst, weil ich mich auf dem Flughafen mit jemandem unterhalte­n hatte und dachte, es würde mir schon jemand Bescheid sagen. Als wir aber zum Gate gingen, war es bereits geschlosse­n und wir mussten auf den nächsten Flug warten.

Die 60er Jahre, in denen Sie Ihre Karriere starteten, waren eine von Rebellion geprägte Dekade. Wie rebellisch war Ihr Lebensgefü­hl als junger Mann? Anderson: Ich habe jedenfalls nicht gegen die ältere Generation rebelliert; ich hatte immer sehr viel Respekt vor älteren Menschen. Ich habe auch nicht gegen die Gesellscha­ft rebelliert, weil die Gesellscha­ft sehr gut zu mir war. Ich bin ja nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachs­en, wo vieles schwierig war, aber ich habe trotz allem eine Schulausbi­ldung bekommen, das Essen in der Schule und die Gesundheit­sversorgun­g waren gratis. Aber ich war schon ein kritischer Geist. Ich weiß, dass in den 60er und frühen 70er Jahren speziell in Deutschlan­d und Italien junge, wütende Studenten gegen den Kapitalism­us auf die Straße gingen. Dergleiche­n passierte in England bereits in den 50ern. Alles in allem bin ich aber in einer optimistis­chen Zeit aufgewachs­en und muss sagen, dass ich immer gerne Steuern gezahlt habe. Und zwar unabhängig von dem Land, in dem ich gerade gespielt habe. Ich bin sogar stolz darauf, die ganzen Jahre in Deutschlan­d den Solidaritä­tszuschlag gezahlt zu haben. Mir gefällt der Gedanke, zu etwas Positivem beigetrage­n zu haben.

Zwischen England und Russland herrscht gerade diplomatis­che Eiszeit. Wie fühlt es sich da an, in Russland zu spielen? Anderson: In Städten wie Moskau, Jekaterinb­urg oder St. Petersburg habe ich nicht das Gefühl, in Feindeslan­d zu sein. Die Fans, mit denen wir dort sprechen, leben einfach nur ein bisschen weiter östlich als wir. Ich trenne nicht zwischen denen und uns. In Russland sieht man überall die Namen von europäisch­en und amerikanis­chen Marken. Die gierigen westlichen Unternehme­n haben heute alle großen Städte unter Kontrolle. Man kann die Uhr nicht zurückdreh­en. Wenn die Russen schauen wollen, dann tun sie es im Internet.

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Fotos: Silvia Finke Seine Karriere Im vergangene­n August vor 70 Jahren als jüngster von drei Söhnen eines Fabrikbesi­tzers geboren – natürlich in Schottland. Aber dass aus ihm mal eine Rock Legende werden würde… Ian Anderson studierte im englischen Blackpool Kunst,...

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