Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Dead drunk“oder „perfectly innocent“Wie verstärkende Wörter in englischen Gerichtsprozessen der Neuzeit zum Einsatz kamen
Was sich zwischen 1700 und 1900 am Old Bailey, dem zentralen Strafgerichtshof in London, alles abgespielt hat, ist schriftlich dokumentiert. Interessant sind diese Dokumente nicht nur für die Rechtsgeschichte, sondern auch für die Sprachwissenschaft. So untersucht die Augsburger Anglistin Prof. Dr. Claudia Claridge zusammen mit Kollegen der Universität Uppsala, wie die Sprecherinnen und Sprecher in diesen Prozessen ihre Aussagen mit Funktionswörtern verstärkten oder abschwächten. So wird ein Angeklagter von Zeugen zum Beispiel als „very violent“beschrieben oder ein Zeuge sagt, dass er nur „a little tipsy“gewesen sei und sich noch gut erinnern könne. Claridge: „Die meisten Sprecher waren sich der Formalität des Gerichtskontexts bewusst und bemühten sich daher Standardsprache zu benutzen.“Häufig bei Sprechern niederer Schichten waren aber auch eher informelle und stark wertende Formen, etwa „dead drunk“(sturzbetrunken), „beastly tipsy“(tierisch betrunken) oder „devilish“sharp (teuflisch scharf). Besonders Personen mit höherer Bildung und Männer nutzten drastische Verstärkungspartikel, oft auch Lehnwörter aus dem Französischen oder Lateinischen. Claridge erklärt das damit, „dass die Verwendung solcher Wörter für weniger gebildete Sprecher – wozu damals neben niedrigeren Schichten auch Frauen gehörten – ein Problem war“. Vor allem Richter und Anwälte bevorzugten sehr intensive Verstärkungspartikel, um die Befragten auf eine klare Antwort festzunageln oder ihren Argumenten besonderen Nachdruck zu verleihen. Opfer, Zeugen und Angeklagte waren mit solchen Verstärkungen hingegen zurückhaltend – von männlichen Beschuldigten abgesehen, die damit häufig ihre Unschuld emphatisch beteuerten. Seit Anfang des Jahres arbeiten Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler aus Augsburg und Cairns (Australien) an einem neuen, vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und „Universities Australia“geförderten Projekt zum Thema „Language Emergence in Multilingual Contexts“. Es geht um die Frage, wie neue Sprachen nicht – wie traditionell vorausgesetzt – durch die Aufspaltung einer gemeinsamen Grundsprache entstehen, sondern als Mischformen im Gefolge des intensiven Kontakts unterschiedlicher Sprachen. „Um hinter die sozialen und linguistischen Prozesse zu kommen, die unter intensivem Sprachkontakt zur Entstehung neuer Sprachen führen, werden wir Sprachen und Sprachkontaktszenarien in Ozeanien, Australien, Amazonien und Amerika eingehend und vergleichend untersuchen. Wir nehmen an, auf diese Weise zu allgemeinen Aussagen über Kontexte und Mechanismen der Entstehung von neuen Kontaktsprachen und letztlich zur Frage der Sprachevolution an sich gelangen zu können“, so Prof. Dr. Péter Maitz. Maitz ist Inhaber des Augsburger Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft. Er hat sich zuletzt durch die Dokumentation und Erforschung des „Unserdeutsch“, der um 1900 im Bismarck-archipel entstandenen und einzigen deutschbasierten Kreolsprache, als Fachmann in Sachen Kontaktsprachen international einen Namen gemacht. Als weltweit anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Sprachtypologie und der Sprachkontaktforschung nicht minder renommiert ist Maitz’ australische Kollegin Prof. Dr. Alexandra Y. Aikhenvald von der James Cook University in Cairns, die gemeinsam mit ihm das Projekt „Language Emergence in Multilingual Contexts“konzipiert hat und leitet. Traditionell wird die Geschichte der Entstehung der alten Kultursprachen, darunkolonien ter auch der europäischen, als Aufspaltung einer gemeinsamen Grundsprache im Zuge der Abwanderung und/oder einer bewussten Abschottung von bestimmten Bevölkerungsgruppen beschrieben. Im strikten Gegensatz dazu entstanden und entstehen allerdings die meisten jüngeren und jüngsten Sprachen unter intensiven Sprachkontaktbedingungen, als Ergebnis von Sprachvermischung also. Vom Pidginenglisch bis zum Kiezdeutsch Solche Mischsprachen sind zum Beispiel die zahlreichen Pidgin- oder Kreolsprachen in den ehemaligen europäischen im Atlantik oder im Pazifik; solche Mischsprachen sind aber auch zeitgenössische multiethnolektale Sprachformen, die von Sprecherinnen und Sprechern multiethnischer Gruppen in einem bestimmten Sprachraum verwendet und als für diese Sprecherinnen und Sprecher typisch eingestuft werden. Beispiele in Deutschland sind unter anderem das sogenannte Gastarbeiterdeutsch oder das Kiezdeutsch. Sie spiegeln grundlegende Veränderungen sozialer Strukturen von ehemals geschlossenen, homogenen, einsprachigen Gesellschaften hin zu offenen, heterogenen und mehrsprachigen Gruppen. Welche Hintergründe und Prozesse stehen beziehungsweise laufen hinter der Entstehung von solchen neueren Kontaktsprachen? „Uns geht es darum“, so Maitz, „die sozialen Kontextbedingungen und linguistischen Mechanismen zu identifizieren und zu beschreiben, die zur Entstehung von neuen Sprachen als Folge von Sprachkontakt führen.“Die Liste der Sprachen, die zu diesem Zweck analysiert werden sollen, ist lang. Sie reicht von Versionen der Hmongsprache, die in Australien von Auswanderern gesprochen wird, über Witoto-sprachen in Kolumbien, Kumandene Tariana in Amazonien, Chamacoco in Paraguay und das inzwischen ausgestorbene Pomo in Nordkalifornien bis hin zu im schulischen Kontext entstandenen Kontaktsprachen wie Unserdeutsch in Papua-neuguinea, Bilingual Navajo in den USA, Tayo in Neukaledonien oder Roper River Kriol in Australien. „Der erste Projekt-workshop wird in Kürze an der James Cook University in Australien stattfinden, wo die individuellen Teilprojekte vorgestellt und diskutiert werden sollen“, sagt Maitz, der von Januar bis März 2018 im Rahmen einer projektbezogenen Gastprofessur bereits in Cairns geforscht und Seminare gehalten hat.