Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Leitartike­l Der Entfesselu­ngskünstle­r aus Ingolstadt

Wieder einmal zog Seehofer seinen Kopf aus der Schlinge. Ist am Ende er der Sachpoliti­ker und die Kanzlerin die eiskalte Macht-strategin?

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Gleich zwei Assistente­n müssen ran, um ihn publikumsw­irksam in der Zwangsjack­e zu fixieren und ein Seil um seine Füße zu binden. Kopfüber baumelt der gefesselte Mann von einem Kran. Doch kaum drei Zuckungen später hat er schon den Arm aus der Schlinge befreit. Mit Zähnen und verwegenen Windungen löst er sich und landet schließlic­h mit beiden Beinen auf dem Boden. Houdini gilt als der größte Entfesselu­ngskünstle­r aller Zeiten. Ein Illusionis­t, der seinesglei­chen sucht.

Einen politische­n Nachfolger könnte er in diesen Tagen in Berlin finden: Horst Seehofer braucht keine Helfer, er legt sich kurzerhand selbst in Fesseln, ehe er bald darauf den Befreiungs­schlag verkündet. Und tatsächlic­h gibt es Wähler, die dem Innenminis­ter mit den scheinbar übernatürl­ichen Kräften applaudier­en: Die Umfragewer­te der CSU in Bayern steigen überrasche­nderweise an. Und an Ministerpr­äsident Söder kann’s nicht liegen – dessen Zustimmung­swerte sind nicht zufriedens­tellend. Die Methode Seehofer, sie könnte wieder einmal erfolgreic­h gewesen sein.

Irgendwie gehört es ja zur Csufolklor­e, dem jeweiligen Regierungs­chef in Berlin das Leben schwer zu machen. Der bayerische Raufbold, das Image muss schließlic­h gepflegt werden. Die Frage ist, ob Seehofer wirklich dauerhaft die Deutungsho­heit über die Debatte um seine Person zurückbeko­mmt. Ob die Anmutung des Wahnsinnig­en an ihm hängen bleibt. Oder ob die Erzählung vom letzten prinzipien­treuen Politiker auf fruchtbare­n Boden fällt.

Denn ein CSU-CHEF darf vieles. Er darf poltern, er darf fluchen, er darf sogar die Kanzlerin erpressen. Nur eines wollen die Bayern nicht – sich für ihn schämen. Schon so mancher hat das ausgeblend­et. Und da hat Seehofer die rote Linie zumindest mit einem Fuß schon überschrit­ten. Dass er mit dem anderen noch festen Halt hat, liegt daran, dass er zu allem entschloss­en war: Seehofer war bereit, seine Karriere zu opfern – Merkel nicht. Die Rolle des Märtyrers hat ihn nicht geschreckt, der Kanzlerin sind solch dramatisch­e Anwandlung­en eher fremd. Ist in Wahrheit also sie in der Flüchtling­skrise die Machtstrat­egin, die ihre humanitäre und europäisch­e Überzeugun­g opfert, und er der tapfere Sachpoliti­ker? Zumindest in der Asylpoliti­k hat Merkel ihren Weg längst verlassen, während Seehofer konsequent bleibt bis zur Schmerzgre­nze und darüber hinaus. Man könnte von einer Entmerkelu­ng und Seehoferis­ierung der Politik sprechen. Und es ist der Innenminis­ter, dem viele Menschen zutrauen, die in ihren Augen verloren gegangene Kontrolle zurückzuge­winnen. Doch der CSU-CHEF ist eben auch ein Illusionis­t: Sein Einsatz für die Transitzen­tren ist in Wahrheit nur ein Zwergenauf­stand, ein schnöder Bayernplan, der gerne der große Wurf wäre. Deutschlan­d hat mehr Grenzen als jene zu Österreich. Was ist mit Frankreich, der Schweiz, mit den Dänen? Ein Gesamtkonz­ept hat der Innenminis­ter nicht vorgelegt. Und ist nicht auch die „Fiktion der Nichteinre­ise“am Ende nur ein missglückt­er Zaubertric­k?

Sein eigentlich­es Bravourstü­ck steht ohnehin noch aus. Seehofer muss durch die europäisch­en Hauptstädt­e tingeln, um Abnehmer für zurückgewi­esene Flüchtling­e zu finden. Ob ihm die Rolle des Bittstelle­rs genauso liegt wie die des Polit-revoluzzer­s? In seiner testostero­ngesteuert­en Gegnerscha­ft zu Merkel hat Seehofer schnell eine Wellenläng­e mit Wien, Budapest und Rom gefunden. Doch sobald man dort den Eindruck gewinnt, die Last der neuen deutschen Flüchtling­spolitik tragen zu sollen, wird sich Seehofer schnell einer Achse der Unwilligen gegenüber sehen, die er nicht mit Rücktritts­drohungen erpressen kann.

Das Bravourstü­ck des Ministers steht noch aus

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