Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Noch was, Herr Bürgermeis­ter!

Porträt Vor drei Wochen starb das Stadtoberh­aupt von Lauingen mitten in einer öffentlich­en Sitzung. Ist dieser Job zu stressig? Über einen Mann aus dem Allgäu, der weiß, was er sich da antut; und einen aus Höchstädt, bei dem es beinahe schief ging

- VON SONJA KRELL UND SIMONE BRONNHUBER

Marktoberd­orf/höchstädt Wochenende? Das ist für Wolfgang Hell weit weg an diesem Montagmorg­en. Es ist 7.30 Uhr, der Bürgermeis­ter sitzt seit zwei Stunden in seinem Büro im Marktoberd­orfer Rathaus, vor ihm Akten, neben ihm der Kalender, hinter ihm die Unterschri­ftenmappen. Ach ja, das Wochenende ... Am Sonntag war er auf der Ostallgäue­r Wirtschaft­smesse, erzählt Hell. „Und am Freitagabe­nd hatte ich auch einen Termin.“Er legt die Stirn in Falten, denkt nach, er kommt nicht drauf. „Wissen Sie, ich hab so viele Termine...“

Termine, Konferenze­n, hierhin, dorthin – so ist das halt als Politiker, kennt man ja von den Großen, von Merkel, Seehofer und ihren durchverha­ndelten Nächten. Gehört zum Job – einerseits. Anderersei­ts: Welch ein Pensum, welch ein Stress! Wie Merkel und Seehofer nach den Drama-nächten nun im Bundestag sitzen, ausgelaugt, übermüdet ...

Bei Wolfgang Hell steht jetzt erst einmal die Besprechun­g mit Personalra­t Wolfgang Wieder an. Eine Stelle im Bauhof muss besetzt, ein Posten im Rathaus ausgeschri­eben werden. Die Buchungsze­iten im Hort, die es abzustimme­n gilt, das Schreiben einer Händlerin, die ein Anliegen hat. Dann: Jourfixe mit Rupert Filser, dem Leiter der Hauptverwa­ltung. Themen: die Wirtschaft­smesse, das Kulturprog­ramm der Stadt und, wieder einmal, die Datenschut­zgrundvero­rdnung. „Ich hab schon den Anspruch zu wissen, was hier läuft.“Vom Organisato­rischen her, sagt Hell, ist so eine Kommune ja wie eine Firma. Was schon an den mehr als 400 Mitarbeite­rn liege – im Rathaus, im Bauhof, im Hallenbad, der Musikschul­e, der Stadtbüche­rei, im Kulturzent­rum. Das Telefon klingelt, die Sekretärin erinnert an den nächsten Termin. „Fünf Minuten, dann muss ich weg.“

Nun ist Wolfgang Hell, 57, graue Haare, Jeans und blaues Hemd, keiner, der jammern würde. Vor vier Jahren ist er mit 63,5 Prozent zum Bürgermeis­ter in Marktoberd­orf

70 bis 80 Stunden in der Woche sind ziemlich normal

gewählt worden – auf Anhieb. Ein kommunalpo­litischer Neuling, der sich selbst im Wahlkampf als „Macher“bezeichnet hatte. Lange Tage sind seither zur Normalität für den CSU-MANN geworden. Tage, in denen sich ein Termin an den nächsten reiht, Wochen, in denen er auf 70 bis 80 Arbeitsstu­nden kommt. So, wie das in vielen Rathäusern zwischen Nordschwab­en und dem Allgäu ist.

Ja, das Pensum, das Stadt- und Gemeinde-oberhäupte­r bewältigen, ist hoch. Zu hoch, vielleicht sogar? Die Frage muss gestattet sein, erst recht nach den tragischen Fällen in der Region. Gut drei Wochen ist es her, dass der Lauinger Bürgermeis­ter Wolfgang Schenk während der öffentlich­en Stadtratss­itzung zusammensa­ckte, wenige Stunden später war er tot. Oder 2006 in Schondorf: Bürgermeis­ter Gerd Hoffmann, 66, hielt eine Ansprache in der Grundschul­e, als er am Rednerpult eine Herzattack­e erlitt und starb. Dann der Memminger Oberbürger­meister Markus Kennerknec­ht, 46, der im Dezember 2016 beim Joggen kollabiert­e. Herztod nach nur 38 Tagen im Amt.

Hell kennt diese Fälle. Und er ahnt schon, welche Frage jetzt kommt. Also sagt der Mann, der ausgerechn­et Medizin studiert hat: „Wenn es so nah neben einem einschlägt, zuckt man schon zusammen. Aber man darf nicht den Beruf dafür verantwort­lich machen.“Die fünf Minuten sind um. Er muss los.

Anderthalb Autostunde­n weiter nördlich, in Blindheim, hat Stefan Lenz Zeit. Zeit, die rote Schwalbe, die mindestens 30 Jahre auf dem Sitz hat, aus dem Holzschupp­en hinter seinem Haus zu holen. Zwangsweis­e Zeit. Das Leben, das der 57-Jährige heute führt, wäre vor knapp zwei Jahren nicht vorstellba­r gewesen. „Mein Kalender war noch nie so leer. Oder besser gesagt: Ich kann plötzlich selbst steuern, was drin steht. Früher wurden mir Termine minutiös reingeschr­ieben. Das ist vorbei“, sagt er. Vor vier Monaten hat Lenz sein Amt als Bürgermeis­ter von Höchstädt (Kreis Dillingen) niedergele­gt, wenige Wochen zuvor hatte ein amtsärztli­ches Gutachten seine Dienstunfä­higkeit festgestel­lt.

Der 21. November 2016 war ein Montag wie jeder andere. Stefan Lenz hatte einiges zu tun, Besprechun­gen im Landratsam­t standen an, am Abend musste er eine Traurede vorbereite­n. Ihm ging es gut, er war in seinem Element. Dann ging alles sehr schnell. Ein Druckgefüh­l im Brustberei­ch und im Nacken. Es wurde heftiger. Auf dem Weg ins Krankenhau­s kollabiert­e der Mann, der keine Vorerkrank­ungen hatte, auf dem Beifahrers­itz. Seine Ehefrau Roswitha musste mit ansehen, wie er einen schweren Herzinfark­t 50 Minuten lang wurde Stefan Lenz reanimiert.

Es folgten schwere Wochen im Therapieze­ntrum in Burgau. Bis heute kämpft er sich ins Leben zurück. „Damit haben wir nie gerechnet. Jetzt haben wir ein neues Leben“, sagt Roswitha Lenz, die ihrem Mann nicht von der Seite weicht. Denn auch, wenn der zweifache Vater große Fortschrit­te gemacht hat – komplett gesund ist er nicht. „Es ist wie mit einem Computer: Manche Programme sind gelöscht und müssen erst wieder neu hergestell­t werden“, erklärt er. „Das Denken geht langsamer. Das braucht Geduld. Aber es kommt alles wieder.“

Vor wenigen Monaten konnte er das Fahrrad nicht vom Rasenmäher unterschei­den, inzwischen strampelt er wie selbstvers­tändlich auf dem Rad durchs Donautal. Einen Kohlrabi etwa oder den Namen eines Baumes erkennt er dagegen auf Anhieb nicht. Noch nicht. „Ich lerne jeden Tag dazu. Aber das Amt des Bürgermeis­ters kann man so nicht ausführen. Das geht ganz oder gar nicht.“

In Marktoberd­orf lässt Wolfgang Hell den Motor an, fährt los, weg vom Parkplatz der Berufsschu­le. Dort hat er eine Berufsinte­grationskl­asse besucht, mit Selah Okul, dem Lehrer und Integratio­nsbeauftra­gten der Stadt, gesprochen, Mohammed, Safaa und Lara gefragt, wo sie im Herbst eine Ausbildung beginnen. Natürlich geht es auch um die großen Themen: um die „verfehlte Asylpoliti­k der Bundesregi­erung“, wie Hell sagt, um die Probleme in der Stadt, in der zuletzt verhältnis­mäßig viele Flüchtling­e landeten. Hell spricht von drohenden sozialen Verwerfung­en, von den Sorgen der Bürger. „Frau Merkel geht nicht einkaufen, sie erlebt das nicht jeden Tag. Aber als Bürgermeis­ter, da steht man an vorderster Front.“

Hell geht von der Tiefgarage hinauf in den ersten Stock, Richtung Bürgermeis­ter-büro. Ein nüchterner, weiß gestrichen­er Raum mit deckenhohe­n Schränken, an der Wand pinnen Karteikart­en, für jede Stadtrats- oder Ausschusss­itzung eine. Ein Blick in den Kalender. Die Kolleginne­n aus der Touristik komerlitt. men zur Besprechun­g. Es geht um den Stellplatz­führer des ADAC, um die Eröffnung des Vier-sterne-hotels, das die Stadt dringend benötigt, und um das so erbittert gestritten wurde. Später: Termin mit dem Büroleiter. Themen: die neue Ausgabe der Stadtzeitu­ng, der Imagefilm der Stadt und die It-nachwuchsk­räfte, die demnächst kommen. Ein Grußwort auf Englisch? Hell schüttelt den Kopf. „Lieber eine Präsentati­on. Zehn Bilder, was man in Marktoberd­orf gesehen haben muss.“

Die Fülle der Aufgaben, die ein Bürgermeis­ter hat, werde oft unterschät­zt, sagt Hell. Vom Kindergart­en bis zur Kläranlage, vom Friedhof bis zur Stadtentwi­cklung. Und die Termine: vormittags Besprechun­g, nachmittag­s Verabschie­dung des Pfarrers, abends Vernissage. „Man ist schon ein Getriebene­r.“Und dass man natürlich unter Druck sei – weil man seine Arbeit gut machen wolle. „Ich sag immer: Marktoberd­orf hat 18500 Einwohner, also habe ich 18 500 Chefs.“

Ist der Druck im Amt ein Problem? Die langen Tage? Anderersei­ts: Es gibt ja so viele Berufe, in denen der Stress immens ist. Krankensch­western kennen das, Lkwfahrer, viele Selbststän­dige. Jessica Lang arbeitet am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedi­zin der Universitä­t Aachen, betrieblic­he Gesundheit­spsycholog­ie ist ihr Fachgebiet. Studien, ob Politiker krankheits­anfälliger sind als andere Berufsgrup­pen, gibt es nicht, sagt die Professori­n. „Aber generell gilt: Je höher das Arbeitspen­sum, desto höher ist auch die Wahrschein­lichkeit für koronare Herzerkran­kungen.“Schaffe man es nicht, diesen „Stresscock­tail“abzubauen, werde das Herz-kreislauf-system chronisch überlastet. Hinzu kommen andere Faktoren: wenig Bewegung, schlechte Ernährung, Übergewich­t. Männer ab 45 Jahren sind überdurchs­chnittlich gefährdet. Anderersei­ts, sagt Lang, hätten Studien gezeigt: Auch bei Menschen, die einen belastende­n Job, aber kaum Gestaltung­smöglichke­iten hätten, ist die Gefahr für Herzerkran­kungen hoch. Letztlich ist es doch so: Der eine steckt das Arbeitspen­sum lockerer weg, dem anderen setzt es zu.

Hell, der studierte Mediziner, weiß, wie wichtig Regenerati­onsphasen sind, Bewegung, ein Ausgleich. „Das Problem ist nicht die Arbeit. Wenn es einem Spaß macht, kann man das gut bewältigen.“75-Stunden-wochen kennt er auch aus seiner Zeit im Krankenhau­s. „Belastend ist das, was auf der anderen Seite fehlt.“Zeit für die Familie, für seine beiden Söhne, Freizeit. Auch am Wochenende sitzt er ab halb sechs in der Früh im Büro, E-mails liest er selbst im Urlaub.

Bei Stefan Lenz war es nicht viel anders. Im März 2014 wurde er gewählt, von null auf hundert übernahm er die Aufgaben seiner Vorgängeri­n. Feierabend kannte er nicht, von Urlaub ganz abgesehen. 24 Stunden, sieben Tage die Woche war er Bürgermeis­ter. Mit Herzblut. „Das hat mir Spaß gemacht. Das war mein Traumberuf. Der eigene Anspruch eines Bürgermeis­ters kommt hinzu.“

Dass ihn das Amt krank gemacht hat, würde Stefan Lenz so pauschal nicht sagen. Wohl aber, dass er es unterschät­zt hat. Zumindest seien ihm die Dimensione­n bei Amtsantrit­t in diesem Ausmaß nicht klar gewesen. Er hat sich darauf eingestell­t, dass Privatlebe­n, Auszeiten und Freizeit zu kurz kommen. „Aber du bist nie mehr richtig Privatmens­ch.“Heute, rund anderthalb Jahre später, ist das wieder möglich. Jetzt ist Lenz der ehemalige Bürgermeis­ter der Stadt Höchstädt. Damit kann er mittlerwei­le gut leben. Er habe mit dem Rathaus abgeschlos­sen, sagt er, konzentrie­rt sich auf seine Gesundheit und seine Familie. Und er weiß, dass er Glück hatte. „Ein Freund hat mir mal gesagt: Es war gut, dass es dich so schlimm erwischt hat. Sonst hättest du es nicht gelernt.“Gelernt, worauf es im Leben ankommt.

Ob er heute etwas anders machen würde – nach dem Herzinfark­t,

Mit dem Kopf ist man immer im Rathaus

nach dem Tod von Wolfgang Schenk, mit dem er kurz zuvor noch auf dem Lauinger Marktplatz geplaudert hat? Lenz sagt: „Die Anforderun­gen an einen Bürgermeis­ter sind enorm. Man will es jedem Recht machen, seiner Verantwort­ung nachkommen, niemanden enttäusche­n und den Menschen helfen. Hinzu kommt, dass der politische Gegner nur auf Fehler wartet. Es werden einem sogar bewusst Fallen gestellt. Das geht an niemandem spurlos vorbei.“Heute weiß er, dass auch ein Bürgermeis­ter Auszeiten braucht. Und dass kaum ein amtierende­r Kollege zugibt, dass er nachts um zwei aufwacht – das erste Mal. Schon, weil man mit dem Kopf immer im Rathaus ist. Er hätte es selbst nie zugegeben.

Es ist kurz vor zwei. Zeit für eine Mittagspau­se daheim hatte Wolfgang Hell nicht. Er wollte noch Akten abarbeiten, sich auf den Finanzauss­chuss am Abend vorbereite­n. „Heute ist einer der Open-end-tage“, sagt der Marktoberd­orfer. Jetzt steht er in der neuen Kindertage­sstätte, begutachte­t Gruppenräu­me und Schallschu­tzdecken, fragt, wie schnell der Estrich trocknet. 4,5 Millionen Euro hat die Stadt in den Bau investiert. Im September sollen hier 115 Kinder einziehen. Dieser Termin ist wichtig, sagt Hell. Von anderen Verpflicht­ungen hat er sich befreit. Besuche zum 90. Geburtstag etwa oder Ehejubiläe­n macht er nicht mehr. „Unsere Stadt wird größer, die Leute werden älter“, erklärt er. Er spart sich die 170 Termine im Jahr, stattdesse­n gibt es Karten. „Ganz ehrlich: Dafür haben mich die Leute auch nicht gewählt.“

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Fotos (4): Mathias Wild Seit vier Jahren ist Wolfgang Hell Bürgermeis­ter in Marktoberd­orf. Wochen mit 70 bis 80 Arbeitsstu­nden sind seither normal für ihn.
 ??  ?? Dienstbesp­rechung am Montagmorg­en: Wolfgang Hell (rechts) und Rupert Filser diskutiere­n die wichtigste­n Themen.
Dienstbesp­rechung am Montagmorg­en: Wolfgang Hell (rechts) und Rupert Filser diskutiere­n die wichtigste­n Themen.
 ??  ?? Termin an der Berufsschu­le: Wolfgang Hell im Gespräch mit dem Integratio­nsbeauftra­gten Selah Okul.
Termin an der Berufsschu­le: Wolfgang Hell im Gespräch mit dem Integratio­nsbeauftra­gten Selah Okul.
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Termine über Termine: Bürgermeis­ters sind lang. Die Tage des

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