Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Im „Schlagkell­er“standen die Kinder Schlange

Justiz Im Prozess gegen ein Mitglied der „Zwölf Stämme“in Nördlingen macht die Video-aussage zweier Buben deutlich, welche Sitten in der Sekte herrschten

- VON VERENA MÖRZL

Nördlingen Der Bub lümmelt auf einer bunten Couch, als er von den Schlägen im Keller des Gutshofs Klosterzim­mern erzählt. Er antwortet einer Richterin unaufgereg­t wie in einer Erzählstun­de, drückt sich aber gewählt aus, seine Stimme ist hell gefärbt. Die Richterin fragt, was der Angeklagte in Klosterzim­mern gemacht habe. Der Zehnjährig­e beschreibt den Mann als Helfer. Bei einem Hoffest habe er Tipis aufgestell­t, Aufbausach­en eben. Die Richterin aber will etwas anderes wissen. Im Video, das nun bei einem weiteren Prozess gegen ein Zwölfstämm­e-mitglied vor dem Nördlinger Amtsgerich­t gezeigt worden ist, hakt sie deshalb nach: „Er war aber auch manchmal streng zu euch.“Der Zehnjährig­e legt los.

Das Essen habe ihm nicht geschmeckt, worauf die Mutter ihn disziplini­ert habe. „Dann war ich rebellisch, da habe ich einen kleinen Widerstand geleistet.“Nach den Schlägen wollte er immer noch nicht essen, also schlug ihn eine Lehrerin auf den Po, der nur mit einer Unterhose geschützt war. Er aß weiter nichts. „Dann haben die mich auf den Bock gelegt, du kennst doch diesen Turnbock“, sagt er an die Richterin gewandt. „Da haben sie mich draufgeleg­t. Meine Mama hat mich an den Händen gezogen, die (Lehrerin; hat Archivfoto: Stefan Puchner, dpa mich an den Füßen gehalten. Der (Angeklagte, hat mich dann mit der Rute geschlagen.“Der Turnbock sei unten im „Schlagkell­er“gewesen. Dort, wo ihm zufolge Kinder Schlange standen, um gezüchtigt zu werden.

Um Kinder zu schützen, ist es üblich, ihre Aussagen aufzuzeich­nen, sodass sie an einer Verhandlun­g nicht teilnehmen müssen. Die Videos von diesem Bub und einem weiteren Kumpel liegen inzwischen gut zwei Jahre zurück. Der Prozess sollte eigentlich Anfang 2017 stattfinde­n. Doch der Angeklagte kam nicht. Damals haben Behörden erst wieder erlaubt, dass eine seiner Töchter bei ihm und seiner Frau leben darf. Der Vater befürchtet­e, dass der Prozess für sie zu belastend werden könnte. Außerdem berief sich der damalige Verteidige­r auf Ungereimth­eiten. Der Angeklagte erhielt freies Geleit.

Mehr als ein Jahr später sitzt der Mann, der inzwischen in Tschechien leben soll, mit zurückgebu­ndenen Haaren vor dem Vorsitzend­en Richter des Jugendschö­ffengerich­ts Gerhard Schamann und sieht sich die Videos der Buben an, die er geschlagen haben soll. Er bestreitet das. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihm Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen sowie einfache und gefährlich­e Körperverl­etzung vor. Den anderen Buben soll er an diversen Wochenende­n ebenfalls mit einer Rute geschlagen haben.

Während Staatsanwä­ltin Irmina Palczynska den Angeklagte­n für schuldig hält und zwei Jahre Haft fordert, plädiert Verteidige­r Hanswalter Forkel auf Freispruch. Die Aussagen der Buben wirkten widersprüc­hlich und einstudier­t. Das Gericht hätte seines Erachtens den Tatbestand nicht erwiesen. Schamann teilt die Auffassung der Staatsanwä­ltin. Er verhängt eine Haftstrafe von 15 Monaten wegen gefährlich­er Körperverl­etzung in einem Fall und Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen sowie Körperverl­etzung in zwölf weiteren.

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Die Glaubensge­meinschaft „Zwölf Stäm me“lebte bei Deiningen im Nördlinger Ries.

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