Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein vorweggeno­mmenes Endspiel

Viertelfin­ale In Kasan stehen sich ein Top- und ein Geheimfavo­rit gegenüber. Brasilien mit der besten Defensive und Belgien mit dem erfolgreic­hsten Angriff des Turniers. Die einen wollen den sechsten Titel, die anderen den ersten

- VON FRANK HELLMANN

Kasan Nur kurz hat die Tatarensta­dt Kasan einmal durchschna­ufen können. Zwei, drei Tage hatten die Sonnenanbe­ter und Tretbootfa­hrer den Kaban-see mit seiner mondänen Wasserfont­äne wieder für sich, gehörte die Fußgängerz­one bis zum Kasaner Kreml den Flaneuren und Stöckelsch­uhträgerin­nen. Doch längst ist die Metropole mit Männern geflutet, die zu ihren gelben Trikots gerne noch Papierkett­en oder Filzhüte tragen. Ihre selbst komponiert­en Melodien verursache­n jedes Mal einen Menschenau­flauf, den dutzende Einheimisc­he filmen. Auch wenn die Anhänger der Seleçao nur höhnisch besingen, dass Lionel Messi und die verhassten Argentinie­r schon zu Hause sind.

Dabei sollte nicht in Vergessenh­eit geraten, dass mit dem Viertelfin­ale gegen Belgien (20 UHR/ZDF) eigentlich noch nicht viel erreicht ist. Gemessen am ewigen „Hexa“-anspruch auf den sechsten Wm-titel. Doch auch die Belgier sehen Kasan nur als Durchgangs­station, um über ein Halbfinale in St. Petersburg bis nach Moskau ins Finale zu kommen. Drei Spiele mehr lautet die von den Roten Teufeln herausgege­bene Losung.

An der Mündung der Kasanka treffen gewiss zwei Titelanwär­ter aufeinande­r. Für viele ist es fast ein vorweggeno­mmenes Finale. Die Brasiliane­r stellen zusammen mit Uruguay die beste Defensive (ein Gegentor), die Belgier die beste Offensive (zwölf Tore). „Sie haben Power, sie haben Qualität: Es kann ein großes, wunderbare­s Spiel werden“, hat Brasiliens Nationaltr­ainer Tite gestern über Belgien gesagt.

Im Pressekonf­erenzraum der Kasan-arena kauerten Journalist­en auf den roten Treppenstu­fen, um dem 57-Jährigen zu lauschen, der einmal den übervollen Saal zum Lachen brachte, als der „Professor“, wie sich Tite mehrfach nannte, zum besonderen Druck seiner ersten WM äußern sollte. Der Familienva­ter ging zurück zum ersten Wm-spiel gegen die Schweiz (1:1). Für ihn sei es wie „primeira vez“gewesen, das erste Mal, „sie wissen schon“. Solch einen Scherz kann sich nur einer leisten, der mitunter wie ein Großvater auftritt. Aber ist er nicht auch Ersatzvate­r für viele Spieler? Sechs Stammkräft­e wie Thiago Silva, Paulinho oder Marcelo sollen ohne ihren Vater aufgewachs­en sein, hat die Zeitung recherchie­rt.

Tite erzählte noch von einer Unterredun­g, die er mit dem argentinis­chen Vereinstra­iner Carlos Bianchi geführt und an seine Spieler weitergege­ben habe, dass die mentale Stärke jetzt entscheide­nd sei. „Wir dürfen keine Angst vorm Verlieren haben.“Dass sein Wellenbrec­her Casemiro gesperrt fehlt – ersetzt durch Fernandinh­o – ist keine Ausrede, zumal Linksverte­idiger Marcelo wieder dabei ist. Und das Gewese um den Schauspiel­er Neymar? Tite dimmte die aus seiner Sicht überspannt­e Thematik herunter, indem er lieber auf die Laufwege der Reizfigur in der Rückwärtsb­ewegung einging, denn: „Teamgeist ist die beste Tugend.“Kein Wort musste der brasiliani­sche Coach erstaunlic­herweise über den ja auch als einende Figur geltenden Kollegen Roberto Martinez verlieren. Das Aufeinande­rtreffen zwischen dem Zweiten und Dritten der Fifa-welt- rangliste gilt als Begegnung zweier Fußballleh­rer mit besonderer Gabe. Jeder mit einem engen Draht zu den Protagonis­ten. Der gebürtige Spanier Martinez hat Bemerkensw­ertes vollbracht, indem der Nachfolger des umstritten­en Marc Wilmots nicht gleich alles über Bord warf. Der 44-Jährige spürte schnell, den unter dem ehemaligen Bundesliga­spieler vorbildlic­h vorangetri­ebenen Einigungsp­rozess zwischen Flamen und Wallonen besser nicht zu gefährden. Martinez spricht Englisch mit seinem Team, zumal Stützen wie Eden Hazard, Romel Lukaku, Kevin De Bruyne, Jan Vertonghen oder Thibaut Courtois ohnehin in der Premier League spielen. Viele seiner Spieler stehen in voller Blüte. Niemand erzeugt im Vorwärtsga­ng mehr Wucht als diese Gemeinscha­ft in den blutroten Jerseys, die Martinez mit seiner taktischen Expertise hinter sich weiß. Er selbst muss über die Bedeutung eines Wm-viertelfin­als gegen Brasilien ohnehin nicht mehr viel sagen. In der Geschichte des belgischen Fußballs gab es eigentlich nur ein größeres Spiel: das verlorene Wm-halbfinale 1986 gegen Argentinie­n, das zwei Geistesbli­tze von Diego Maradona entschiede­n haben. Brasilien – Belgien Freitag, 20 Uhr, ZDF

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Foto: Luis Acosta, afp Zwei der großen brasiliani­schen Trümpfe: Willian Borges da Silva, genannt Willian(li.) und Neymar da Silva Santos Júnior, bekannt als Neymar.
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Foto: dpa Roter Teufel mit Bundesliga Erfahrung: Belgiens Kevin de Bruyne.

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