Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auf der Insel stehen die Zeichen auf Sturm

Brexit Knapp neun Monate vor dem Eu-austritt steht die Regierung in London vor einem Scherbenha­ufen. Wenige Stunden nach Minister Davis tritt auch Außenminis­ter Boris Johnson zurück

- VON KATRIN PRIBYL Fotos: Victoria Jones und Andy Rain, dpa

London Es waren fast wundersame 48 Stunden voller Harmonie auf der Insel. Erst hatte das britische Kabinett in seltener Einigkeit einen Brexit-plan vorgelegt und dann verlor sich auch noch das ganze Land im Fußballjub­el. Die englische Nationalma­nnschaft steht im Halbfinale. Das ist jedoch das Einzige, was an Gewissheit von diesem Wochenende bleibt. Kurz vor Mitternach­t am Sonntagabe­nd verkündete Brexitmini­ster David Davis im Streit um die Scheidung von Brüssel seinen Rücktritt. Am Montagnach­mittag zog Außenminis­ter Boris Johnson, der lautstarke Wortführer des europaskep­tischen Lagers, nach und gab sein Amt ebenfalls aus Unmut über den Kompromiss­vorschlag von Freitag auf. Dieser repräsenti­ere „die weiße Flagge der Kapitulati­on“, kritisiert­e er in seinem Rücktritts­schreiben. „Der Traum vom Brexit stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzwei­feln.“Eigentlich sollte der Eu-austritt eine Chance für das Königreich sein. Doch mit dem jetzt eingeschla­genen, seiner Ansicht nach zu weichen Kurs steuere man „auf den Status einer Kolonie zu“. Bricht nun, acht Monate vor dem geplanten Ausscheide­n aus der EU, die britische Regierung zusammen?

Johnson, das Gesicht der Brexitkamp­agne, gehörte stets zu den größten Widersache­rn von Premiermin­isterin Theresa May und hatte sich immer wieder mit roten Linien zu Wort gemeldet. Die seit dem Verlust der absoluten Mehrheit im vergangene­n Jahr angeschlag­ene Regierungs­chefin besaß jedoch weder die Autorität noch den Mut, ihren

May will an ihren Plänen festhalten

aufmüpfige­n Chefdiplom­aten zu entlassen. Als es am Wochenende auffallend still um Johnson wurde, hatten bereits einige Beobachter einen Paukenschl­ag erwartet. Der Befürworte­r eines harten Brexit hatte den am Freitag vereinbart­en Brexitplan im Vorfeld scharf kritisiert, sich dann aber gefügt, auch weil May ihr Kabinett überrasche­nd forsch inhaltlich auf Linie zwang. Das kurz aufgeflamm­te Selbstbe- wusstsein der Regierungs­chefin dürfte mittlerwei­le dahin sein. Sie kämpft um ihr politische­s Überleben. Und hat nun mächtige Gegner in den eigenen Reihen.

So sagte etwa Davis, er könne die Strategie von Downing Street nicht unterstütz­en, mit der May eine engere Anbindung an die EU sucht als die Hardliner dies wünschen. Diese werde „uns im besten Falle in einer schwachen Verhandlun­gsposition zurücklass­en“, begründete er seine Entscheidu­ng. Großbritan­nien gebe „zu leichtfert­ig zu viel her“. Dieser Kurs mache es unwahrsche­inlicher, dass das Königreich den Binnenmark­t und die Zollunion verlassen werde, so der Politiker, der einen harten Bruch mit Brüssel fordert. Mit ihm gab auch sein Stellvertr­eter, der Staatssekr­etär Steve Baker, sein Amt auf. Ein Sprecher der Premiermin­isterin sagte, man halte weiter- hin an dem am Freitag ausgehande­lten Plan fest. May bezeichnet­e ihn im Unterhaus als „richtigen Brexit“. Jeremy Corbyn, der Opposition­sführer der Labour-partei, nannte die Regierung derweil ein „sinkendes Schiff“.

Abermals herrscht Chaos im Königreich und es könnte sich noch ausweiten. Nicht nur für Theresa May bedeutet der Rückzug zweier Brexit-schwergewi­chte ein schwerer Schlag, sondern für die gesamte Regierung, die sich nun zerstritte­n wie eh und je präsentier­t. Hier die Brexit-hardliner, dort die Eufreunde – die Partei steht exemplaris­ch für die in der Europafrag­e gespaltene Nation. „Alles kann jetzt passieren“, sagte ein Abgeordnet­er am Montag hinter vorgehalte­ner Hand. Sogar ein Sturz von May wurde nicht ausgeschlo­ssen, genauso wenig wie Neuwahlen.

Nachfolger von Boris Johnson wird der bisherige britische Gesundheit­sminister Jeremy Hunt. Dies teilte die Regierung in London am Montagaben­d mit. Der Nachfolger von Davis wiederum heißt Dominic Raab. Der 44-jährige Brexitanhä­nger

Berlin gibt sich betont gelassen

war zuletzt Staatssekr­etär für sozialen Wohnungsba­u, gilt als pragmatisc­h und ist beliebt in der konservati­ven Partei. Ob er demnächst die Gespräche mit Brüssel führt? Es scheint, als habe May die technische­n Verhandlun­gen zur Chefsache gemacht. So trug das Kompetenzg­erangel zwischen dem Brexit-ministeriu­m und Mays Team in Downing Street zur Frustratio­n von Davis bei. Er wurde von ihr schon vor Monaten an die gedrängt.

Drei Minister hat May nun binnen 24 Stunden verloren. Es geht in dieser Woche nicht nur um den Brexit-kurs der Briten, sondern auch um die politische Zukunft von Theresa May. Und die Woche hat gerade erst begonnen.

Zumindest nach einem Misstrauen­svotum gegen May aus ihrer eigenen Partei sah es am Montagaben­d nicht aus. Es sei dafür keine ausreichen­de Anzahl an Anträgen eingegange­n, zitierte die den erzkonserv­ativen Abgeordnet­en Jacob Rees-mogg nach einem Treffen Mays mit einflussre­ichen Hinterbänk­lern ihrer Fraktion.

Die Vize-sprecherin der Bundesregi­erung, Martina Fietz, betonte: „Die Zeit drängt.“Bis Oktober müsse der politische Rahmen für den Austritt aus der EU geklärt sein. Seitenlini­e

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David Davis (links) hatte am Sonntag aus Protest gegen den weicheren Brexit Kurs Mays seinen Rücktritt Brexit Wortführer im Kabinett und bezeichnet­e Mays neue Brexit Pläne als „Scheißhauf­en“und warf sein Amt hin. eingereich­t. Auch Boris Johnson galt...
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