Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Reinigung vom Missbrauch
Literatur Bodo Kirchhoff zählt zu den großen deutschen Schriftstellern. Warum er immer wieder über die Zerbrechlichkeit der Liebe schrieb, können die Erinnerungen des 70-Jährigen erhellen
Wird der Mensch älter, drängt ihn immer stärker das Bedürfnis nach Vergewisserung: Lief mein Leben in die richtige Richtung? Habe ich Chancen verpasst? Wie sehr hat mich meine Herkunft geprägt? Bei Bodo Kirchhoffs Romanfiguren liefen diese Fragen unterschwellig immer mit. Etwa wenn sich Liebende entfremden und verwundert zurückblicken, was da verloren ging. Oder wenn sie von vornherein dem Irrtum aufsitzen, sie seien füreinander bestimmt.
Woher diese Melancholie in seinem Schreiben rührt, hat Bodo Kirchhoff – nicht zum ersten Mal, aber jetzt explizit – anlässlich seines 70. Geburtstags jetzt in dem neuen, autobiografischen Roman „Dämmer und Aufruhr“beschrieben.
Kirchhoff liefert den Schlüssel für sein gesamtes Werk, das für seine dramatischen und zumeist komplizierten Liebesgeschichten von der Kritik gerühmt wird. Selbstverständlich enthält auch dieser „Roman der frühen Jahre“Geschichten von der Liebe. Komplizierte Beziehungen. Kirchhoff schildert sie erstaunlicherweise durchweg in einem versöhnlichen Ton: Er ist mit sich im Reinen und er hadert mit niemandem. Selbst mit dem „Kantor“nicht, der den Gymnasiasten einige Jahre sexuell missbrauchte. Am schmerzlichsten war für den Jungen, den der Stimmbruch jäh aus der Sängerkarriere warf, zu erfahren: „Ich war nur einer von mehreren oder etlichen, mit denen er Geheimnisse hatte.“Darin bestand absurderweise die eigentliche Kränkung: nicht der einzige Erwählte zu sein.
Dieser Kantor, Lehrer für Musik und Sport am Internat Gaienhofen am Bodensee, hatte im „Liebeslager“(Kirchhoff) im Uferschilf an einem Juniabend in dem verführten Elfjährigen etwas geweckt, wofür der Knabe „noch kein helfendes Wort“hatte. „Naduschönerdu“wird seither das Codewort, womit der Mann mit langem schwarzen Haar lockt. Größer lässt der Verführer den jungen Bodo werden, der aus dem Internatschor noch sein Solo aus Orffs Carmina Burana im Ohr hat: „Oh, Oh, Oh totus floreo, iam amore virginali totus ardeo“(... ganz erblühe ich, schon entbrenne ich ganz in jungfräulicher Liebe).
Die Arbeit am Roman war für Kirchhof erklärtermaßen eine Form der Therapie. Das Buch, von dem er insgesamt acht Fassungen schrieb, wurde zur „Kraftanstrengung“und zu einem „Akt der Reinigung“zugleich.
Verwoben hat der Autor durchgängig auch die Beziehung zu seiner Mutter – von ersten Erinnerungen an „Damemammi“bis zu ihrem Sterben mit 89 Jahren im Pflegeheim, das er oft besuchte, um der Hochbetagten biografische Rückblicke zu entlocken. Ihre Tagebücher („eigentlich nur Jahresberichte über die Ehe mit seinem Vater“) wird er erst nach ihrem Tod öffnen. Ohnehin ist für Bodo der Mann mit dem Holzbein, ein Kriegsversehrter, der sich ständig um Geld für seine kleine Firma sorgt, kaum sichtbar. Irgendwann wird nicht nur er einen grauen Vw-käfer mit geteilter Heckscheibe fahren, sondern auch sie einen schickeren weißen. Da ist die Mutter schon Texterin in Frankfurt am Main, die in ihrer Freizeit Liebesromane in die Schreibmaschine hackt.
Einen davon findet der Sohn signiert in einem kleinen alten Hotel in Alassio an der italienischen Blumenriviera, „in das meine noch jungen Eltern vor dem Leben geflüchtet waren, ohne die Flucht zu bemerken“. Der originale Schauplatz, garniert mit einer neugierigen Ameri- kanerin, inspiriert Kirchhoff über seine Eltern zu reflektieren, die schon bald zwei getrennte Leben führten. Sodass der Bub Geborgenheit bei der Oma, einer früheren Wiener Opernsängerin, sucht. Ihr Salon mit Kaffeekränzchen amüsanter älterer Damen konserviert eine Epoche.
Möglichst präzise möchte Kirchhoff rekonstruieren, was alte Fotografien, Aufzeichnungen und Erinnerungen hergeben. Und doch spürt der Leser, dass es hohe Literatur ist, die er wirklichkeitsgesättigt hier erzählt bekommt. Kunstvoll schiebt der Schriftsteller die Zeit- und Reflexionsebenen ineinander. Die Vergangenheit reicht in die Gegenwart hinein, die Gegenwart trägt immer Vergangenheit in sich. „Schreiben ist ein nachgeholter Menschwerdungsprozess“, sagt Kirchhoff in einem Interview.
Feuilletonisten haben die biografischen Fährten in früheren Werken Kirchhoffs anhand von „Dämmer und Aufruhr“ausgemacht. Zweimal hat er den übergriffigen Pädagogen schon sterben lassen. Vom Sex besessene junge Männer treten auf, die – wie er – zu den Dirnen ins Frankfurter Bahnhofsviertel gehen. So keusch wie delikat ist endlich, wie Kirchhoff die Intimität des Dreijährigen mit der nackten Damemammi schildert („Der Infant stillt seine Mutter“) – Urquell seines Sprechens über Sexualität. Sein Schreiben auf Basis unersättlicher literarischer Leseerfahrung entspringt nicht zuletzt seiner einsamen Existenz als Kind und Jugendlicher. Diese kulminiert in den sadistischen Schikanen des Internats mit strenger evangelischer Zucht („Heimdresche“) und Zöglingen mit Lust am Quälen.
»Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr. Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 480 Seiten, 28 Euro.