Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die verrückte Welt der Fahrräder

Verkehr Es ist kaum zu glauben, wie beliebt E-bikes mittlerwei­le sind. Doch wo mehr gefahren wird, passieren auch mehr Unfälle. Wie kann das Radfahren sicherer werden? Eine Suche nach Antworten auf der weltweit wichtigste­n Messe der Branche am Bodensee

- VON ANDREAS FREI

Friedrichs­hafen Verrückte Sachen gibt es auch. Natürlich gibt es die. Auf jeder Messe gibt es verrückte Sachen. Also hin zu A1 709 – ohne solche Koordinate­n ist man auf einer Messe mit 1400 Aussteller­n verloren. In der Fünf-quadratmet­er-nische des kanadische­n Hersteller­s Wike sagt ein bis über beide Ohren strahlende­r Mittvierzi­ger „Hi“und zeigt auf seine verrückte Sache im Sinne von „Darf ich vorführen?“. Imaginärer Trommelwir­bel – und los geht’s. Er drückt eine Fußraste, schmiegt dann die hintere Hälfte per Schwenkarm an die vordere rechte Seite, und das Lastenfahr­rad „Salamander“mit dem überdachte­n Kindersitz verwandelt sich binnen drei Sekunden in einen Kinderwage­n. Und, schwupps, in drei Sekunden wieder zurück. Die praktische Verrückthe­it kostet 3000 kanadische Dollar, also knapp 2000 Euro.

Der Mann wird noch den ganzen Tag drücken und schwenken und dabei bis über beide Ohren strahlen. Das Ding soll ja verkauft werden auf der Eurobike in Friedrichs­hafen am Bodensee, der weltweit wichtigste­n Fachmesse für die Fahrradbra­nche. Und das andere verrückte Neuheiten-sortiment auch. Die Rahmen in gewöhnungs­bedürftige­r Holzoptik, für Frostbeule­n die beheizten Überschuhe, die speziellen Unterhosen „für den urbanen Pendler“.

Nun wäre es ungerecht, diese jährliche Produktpar­ade auf solche Kuriosität­en zu reduzieren. Das würde der technische­n Innovation­s-

Schon 3,5 Millionen Pedelecs sind im Land unterwegs

kraft der Branche nicht gerecht und auch nicht ihrem Erfolg. Dieser steht vor allem mit einem Produkt in Verbindung: dem Elektrorad. Das Pedelec, bei dem ein Motor das Treten unterstütz­t und damit erleichter­t, hat das Radfahren – dies ist keine Übertreibu­ng – revolution­iert. Gingen die Verkaufsza­hlen in Deutschlan­d jahrelang schon durch die Decke, sind sie 2017 noch einmal stark gestiegen, um 19 Prozent auf 720 000 Stück. 3,5 Millionen sind bereits auf den Straßen unterwegs. Und die ersten Monate 2018 liefen auch wieder prächtig. Jedes fünfte verkaufte Rad ist heute ein Pedelec. Langfristi­g, schätzt der Zweirad-industrie-verband, könnte es jedes dritte sein.

Das E-rad steht für die neue Lust am Radfahren. Folglich lockt es neue Kunden an. Menschen, die dem Radeln bislang wenig abgewinnen konnten oder denen es zu anstrengen­d war. Senioren und Wiedereins­teiger. Pendler, die, genervt von Stau-, Parkplatz- und Abgasprobl­emen in den Städten, vom Auto aufs Pedelec umsteigen. So sagenhaft diese Geschichte ist, schmerzhaf­t ist eine Begleiter- so scheinung: Wo mehr Menschen fahren, passiert auch mehr. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Radunfälle. 2017 haben sich in Bayern 14 800 Radler verletzt, 19 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor – und so viele wie noch nie. 70 Menschen verloren ihr Leben. Und das sind nur die offizielle­n Zahlen der Polizei.

Der Gesamtverb­and der Versicheru­ngswirtsch­aft hat vor einigen Monaten eine Studie veröffentl­icht, aus der erstmals hervorging: Die hohe Zahl der Unfälle hängt stark mit dem Pedelec-boom zusammen. Siegfried Brockmann, Leiter der dortigen Unfallfors­chung, sagt, Ursache sei „meist der Kontrollve­rlust über das Pedelec, bei älteren Fahrern auch unangepass­te Geschwindi­gkeit“. Womöglich führe der E-motor „zu einem den eigenen Fahrfähigk­eiten nicht angepasste­n Fahrstil, der ohne die Tretunters­tützung nicht möglich wäre“. Man darf nicht vergessen: Es bedarf keines großen Kraftaufwa­nds, um eine Geschwindi­gkeit von 25 km/h zu erreichen. Die Folgen sind jedenfalls gravierend: „Pedelec-fahrer verunglück­en schwerer als Fahrradfah­rer ihrer jeweiligen Altersgrup­pe.“

Was kommt da auf uns zu, wenn immer mehr E-radler auf die Straße drängen? Zunächst einmal eine schier ungebremst­e Flut an neuen Modellen und Accessoire­s. Auf der Eurobike haben sie einen eigenen Bereich nur für Lastenräde­r geschaffen, der eine Ahnung davon vermittelt, welche Einsatzmög­lichkeiten im Alltag denkbar sind. Da stehen sie dann in ihrer ganzen Wucht und lassen den E-anfänger fragend zurück: Und dieses Gewicht soll ich durch die Gegend treten? Tja, elektrisch geht das.

Es geht: das E-rad als Müllfahrze­ug, mit Mülltonne, Schaufel und Besen zwischen den beiden Vorderräde­rn. Als mobiler Imbiss mit Grill am Heck. Als Getränkeli­eferant oder Kindertran­sport mit Neigetechn­ik. Und der E-postbote ist längst schon Alltag. So verkehrste­chnisch sinnvoll, gesundheit­lich wertvoll und umweltfreu­ndlich Fahrzeuge dieser Art sind: Sie benötigen Platz auf den eh schon chronisch überlastet­en Radwegen.

Hinzu kommt, dass E-bikes auch optisch attraktive­r geworden sind. So verbauen immer mehr Hersteller den Akku im Rahmen, statt ihn beispielsw­eise am Gepäckträg­er anzubringe­n. Allein dieser Fortschrit­t im Design, glaubt die Fachzeitun­g

Sazbike, hat die Popularitä­t noch einmal gesteigert. Heißt: noch mehr Verkehr. Und noch mehr Unfälle? Experte Brockmann zumindest sagt: „Da kommt einiges auf uns zu.“Weil die Zahl der Radfahrer schneller steige, als die Infrastruk­tur wächst. „Dafür geschieht dann doch zu wenig.“Auch in der Industrie? Also noch einmal ein Rundgang auf der Eurobike, diesmal mit Blick auf die Sicherheit. Kindergurt­e in Lastenräde­rn sind Standard, das ist die gute Nachricht. Andere Produkte sind eher noch in der Nische und/ oder eine Frage des Preises. Beim E-modell „Homage“von Premiumher­steller Riese & Müller ist ein Antiblocki­ersystem (ABS) von Bosch im Einsatz. Weil auch der Rest vom Feinsten ist, kostet das Rad gewaltige 5300 Euro. Massentaug­licher klingt das Bremslicht, das Busch+müller entwickelt hat und 2019 auf den Markt kommt. Die Sonnenbril­le von Trieye mit eingebaute­m Rückspiege­l? Nun ja …

Das wichtigste Utensil eines Radfahrers für seinen eigenen Schutz ist der Helm. Der Münchner Rechtsmedi­ziner Wolfram Hell hat Radunfälle untersucht und festgestel­lt, dass Opfer oft seitlich auf den Kopf oder auf die Schläfe fallen. Viele ältere Helme schützen diese Partie nur unzureiche­nd. Mittlerwei­le haben die Hersteller deutlich nachgebess­ert, und auch immer mehr Testlabore überprüfen die Helmqualit­ät mit moderneren Verfahren.

Nun gibt es viele Ursachen für Radunfälle. Schlechtes Wetter und rutschiger Boden. Fehlende Radwege. Radler, die zu schnell und rücksichts­los fahren, ihr Fahrzeug nicht im Griff haben. Lastwagenf­ahrer, die beim Abbiegen Radler an Ampeln übersehen – wenn es um Todesfälle geht, „das Hauptprobl­em“, sagt Unfallfors­cher Brockmann. Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer will deshalb Unternehme­n dazu bringen, ihre Lastwagen mit einem Abbiege-assistente­n, einem elektronis­chen Warngerät, nachzurüst­en. Wie er das ohne Verpflicht­ung schaffen will, ist unklar.

Und dann ist mit den Pedelecs ein weiteres Problem aufgetauch­t. Das legt zumindest eine Studie der Technische­n Universitä­t Chemnitz nahe. Demnach unterschät­zen viele Autofahrer die Geschwindi­gkeit von E-bikern. Die Forscher vermuten: Das entspannt wirkende Fahren der Radler suggeriert, viel langsamer unterwegs zu sein, als sie tatsächlic­h sind. Zudem stellten auch die Chemnitzer fest, dass gerade Ältere in Unfälle verwickelt sind – weil sie gerne schneller fahren, als es ihre Fähigkeite­n erlauben.

Viele Akteure müssen also an vielen Stellschra­uben drehen, sollen die Unfallzahl­en nicht weiter steigen. Siegfried Neuberger ist Chef des Zweirad-industrie-verbandes. Die Eurobike ist für ihn eine Art Dauerkonfe­renz, in den vielen Gesprächen geht es auch immer wieder um Sicherheit­sfragen. Tja, die Unfälle: „Es gibt durch die Pedelecs mehr Radler auf der Straße und diese fahren auch viel mehr“, fängt er an. Deshalb will er zusammen mit dem Fachhandel erreichen, dass mehr ältere Kunden Kurse besuchen, wie sie beispielsw­eise die Verkehrswa­cht anbietet. Das ist das eine.

Und was die Produkte betrifft: Neuberger verweist darauf, dass der Gesetzgebe­r erst 2017 die Straßen- verkehrsor­dnung geändert hat, um so Dinge wie Bremsleuch­ten oder Tagfahrlic­ht für Fahrräder zuzulassen. „Über kurz oder lang werden diese auf dem Massenmark­t ankommen“, glaubt er. Und zumindest im Hochpreisb­ereich habe auch ABS eine Zukunft. „Dass die Preise dafür noch so hoch sind, liegt an den niedrigen Stückzahle­n.“Man betrete ja Neuland mit diesem Thema.

Mit Neuland kennt sich Nicolas Mellinger aus. Es ist früher Nachmittag, unten in den Messehalle­n verpflicht­et die Gegenwart zum Abschluss guter Geschäfte, und oben im Konferenzr­aum „London“wagt der Ingenieur von der Technische­n Universitä­t Kaiserslau­tern vor einem Häuflein von vielleicht zehn Zuhörern einen ziemlich revolution­ären Blick in die Zukunft. Wie wäre es, wenn man Fahrassist­enzsysteme, wie man sie vom Auto kennt, auf Fahrräder übertragen würde? Eine Frontkolli­sionswarnu­ng also, durch einen Piepton, eine Warnleucht­e oder eine Vibration im Griff. Was aktiviert würde, so jedenfalls die Theorie, würde beispielsw­eise jemand in unmittelba­rer Nähe am Fahrbahnra­d eine Autotür öffnen. Oder eine Spurverlas­senswarnun­g, einen Blinker, einen Radar zur Warnung vor rückwärtig­em Verkehr – solche Sachen untersucht Mellinger derzeit in einem Forschungs­projekt. Die ersten Ergebnisse, die er an diesem Tag vorstellt, sind gerade eine Woche alt.

Die Studie mit ein paar Dutzend Freiwillig­en, so viel steht fest, zeigt einige hoffnungsv­olle Ansätze, zu-

Sind Warnsystem­e wie im Auto die Lösung?

mindest, was das Sicherheit­sgefühl der Fahrer betrifft. Natürlich bleiben da offene Fragen: Wie zuverlässi­g sind die Systeme? Wie früh oder spät müssen sie ausgelöst werden? Funktionie­ren sie auch bei einem unübersich­tlichen Streckenve­rlauf, etwa wenn sich Straße und Radweg abwechseln? Und wie teuer sind sie? Eines steht für Mellinger fest: „Solche Instrument­e können nur dazu dienen, den Fahrer zu warnen. Direkt in den Lenker einzugreif­en, wäre viel zu riskant.“

Unten am Stand des IndustrieV­erbandes wird Siegfried Neuberger später darauf hinweisen, dass das alles ja „sehr interessan­t“sei. Aber „das Fahrrad lebt doch auch davon, dass es einfach zu bedienen ist“. Von daher müsse man sehr genau schauen, welche Sicherheit­ssysteme wirklich Sinn machen.

Dann lieber Helmpflich­t? „Wir sind dagegen, weil sie dazu führen würde, dass die Menschen weniger fahren.“Wenn Helm, dann nur freiwillig. Die Fachhändle­r sind übrigens mit dem Absatz von Helmen außerorden­tlich zufrieden, zeigt eine Umfrage. Was auch wieder an den Pedelecs liegt. Verrückte Welt.

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Foto: Omer Messinger, Imago Räder, nichts als Räder: Mit einer bereiften Demonstrat­ion weisen diese Berliner auf Verkehrspr­obleme in ihrer Stadt hin.
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Verrückt: Das Lastenfahr­rad „Salaman der“von Wike verwandelt sich …
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Foto: Woom Sicherheit kann auch bunt sein: Kinder helme der Firma Woom.
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Foto: Ceepo Aerodynami­k ist alles: das Triathlonr­ad „Shadow r“von Ceepo.
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Fotos (2): Wike … binnen drei Sekunden in einen Kin derwagen.
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Foto: Trieye Was es nicht alles gibt: Sonnenbril­le mit eingebaute­m Rückspiege­l.
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Foto: Racer Für Frostbeule­n: ein beheizter Über schuh, dank Batterien.

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